Wie „Housing First“-Projekte das Leben ehemals obdachloser Menschen verbessern
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Das Prinzip „Housing First“ geht davon aus, dass bei Obdachlosen zunächst das Wohnproblem gelöst sein muss, bevor weitere Hilfsangebote greifen können.
© Quelle: Maria Ziegler/Unsplash.com
Auch in der Weihnachtszeit übernachten viele Menschen draußen. Eingehüllt in Schlafsäcke und mehrere Lagen Kleidung und nur notdürftig geschützt durch Hauseingänge oder improvisierte Unterstände versuchen sie, Kälte und Nässe zu trotzen. Im Winter ist Obdachlosigkeit besonders hart. Eines Berichts der Bundesregierung sind derzeit gut 260.000 Menschen in Deutschland ohne feste Wohnung, etwa 40.000 davon leben auf der Straße – vor allem in deutschen Großstädten.
Kaum Intimsphäre: Notunterkünfte werden oftmals gemieden
Für sie gebe es zwar einige Hilfsangebote wie Notunterkünfte, erläutert Lars Schäfer, Referent der Wohnungsnotfall- und Straffälligenhilfe der Diakonie Deutschland. Aber diese werden oftmals gemieden, weil dort unter anderem wenig Intimsphäre gewahrt werden kann und es zu Diebstählen oder gewaltsamen Übergriffen unter den Bewohnerinnen und Bewohnern kommt. Außerdem dürfen in der Regel keine Haustiere mitgebracht werden, die für viele Wohnungslose wichtige Begleiter im Leben sind.
„So wie man Schwimmen am besten im Wasser lernt und Fahrrad fahren mit einem Fahrrad, genauso lernt man Wohnen am besten in einer Wohnung und nicht in einer Einrichtung.“
Volker Busch-Geertsema,
Gesellschaft für Innovative Sozialforschung und Sozialplanung
Seit einigen Jahren wollen deshalb Initiativen in mehreren Städten Wohnungslosen eine dauerhafte Perspektive bieten und ihnen ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen. Sie erhalten Wohnungen mit festen Mietverträgen, an die keinerlei Bedingungen geknüpft sind. Das Prinzip nennt sich Housing First und geht davon aus, dass zunächst das Wohnproblem gelöst sein muss, bevor weitere Hilfsangebote greifen können. „So wie man Schwimmen am besten im Wasser lernt und Fahrrad fahren mit einem Fahrrad, genauso lernt man Wohnen am besten in einer Wohnung und nicht in einer Einrichtung“, sagt Volker Busch-Geertsema von der Gesellschaft für Innovative Sozialforschung und Sozialplanung.
Housing First-Projekte: „Leben der ehemals obdachlosen Menschen hat sich erheblich verbessert“
„Die Wohnung alleine ist ein stabilisierender Faktor“, bestätigt Schäfer. Auch der Ansatz der Freiwilligkeit sei grundsätzlich zu begrüßen. Die Bewohnerinnen und Bewohner werden nur auf Wunsch von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern unterstützt. In Deutschland galt lange vor allem das Prinzip der Wohnfähigkeit: Obdachlose müssen in einem mehrstufigen Verfahren nachweisen, dass sie in der Lage sind, alleine zu wohnen. Oft scheitern sie daran oder finden keine dauerhafte Anschlusswohnung. Die Folge ist ein Drehtüreffekt: Viele landen wieder auf der Straße.
Einige der ersten deutschen Housing First-Projekte wurden in Berlin verwirklicht – mit großem Erfolg: „Das Leben der ehemals obdachlosen Menschen hat sich erheblich verbessert. Die Wohnstabilität der Mieterinnen und Mieter ist sehr hoch“, heißt es in einer Pressemitteilung der Senatsverwaltung. Das Prinzip Housing First gilt dort inzwischen als Leitmotiv der Wohnungslosenpolitik. Beschlossen wurde eine Verstetigung des Programms, das 2023 mit 3,3 Millionen Euro hinterlegt ist und auf Paare, Familien mit Kindern und Menschen mit erheblichen körperlichen Mobilitätseinschränkungen ausgeweitet werden soll.
In Düsseldorf sind die Erfahrungen mit Housing First ebenfalls positiv. Unter anderem in Bremen, Hamburg, Frankfurt und Stuttgart wurden kürzlich weitere Modellprojekte ins Leben gerufen. In den USA kamen Studien zu dem Ergebnis, dass sich die Gesundheit der Bewohnerinnen und Bewohner verbesserte, sie weniger Drogen nahmen und die Kriminalitätsrate sank. Gestiegen war hingegen die Bereitschaft, Therapieangebote anzunehmen. Zwar sind mit dem Programm hohe Kosten verbunden. Dafür sinken kommunale Ausgaben etwa für Einsätze von Rettungsdiensten.
„Wenn Politik und soziale Träger gemeinsam mit der Wohnungswirtschaft und der Verwaltung an einem Strang ziehen, lässt sich Obdach- und Wohnungslosigkeit dauerhaft beseitigen“
Sebastian Böwe,
Wohnraumkoordinator von Housing First Berlin
Warteliste von Interessierten ist lang
Für Housing First-Projekte werden teilweise Häuser neu errichtet, meist aber Wohnungen angemietet. Wichtig ist, dass die Bewohnerschaft gemischt ist. Zwar gab es in Berlin zunächst Bedenken und Beschwerden in der Nachbarschaft, doch schon bald stieg die Akzeptanz und wurde sogar nachbarschaftliche Hilfe angeboten. In der Hauptstadt werden aktuell rund 100 Wohnungen im Rahmen von Housing First vermietet. Sie seien aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein, sagt Schäfer. Denn die Warteliste von Interessierten ist lang.
Schäfer bezeichnet Housing First-Projekte deshalb als Baustein in einem Gesamtsystem, das von der Suppenküche über Tagestreffs bis zum betreuten Wohnen reicht. Letztlich müsse jeder Einzelfall individuell betrachtet werden. „Das Ziel ist aber immer eigener Wohnraum“, so Schäfer. Das größte Problem stellt die Akquise dar: Denn Wohnraum ist in vielen Städten knapp, das gilt insbesondere für günstige und geförderte Wohnungen.
Für Obdachlose bräuchte es deshalb speziell für sie vorgesehene Wohnungen und eine Wohnungspolitik, die den Schwächsten helfe, betont Schäfer. So sollten private Vermieter und Genossenschaften finanziell unterstützt werden, damit sie für die Zielgruppe bezahlbaren Wohnraum zur Verfügung stellen. „Wenn Politik und soziale Träger gemeinsam mit der Wohnungswirtschaft und der Verwaltung an einem Strang ziehen, lässt sich Obdach- und Wohnungslosigkeit dauerhaft beseitigen“, hofft Sebastian Böwe, Wohnraumkoordinator von Housing First Berlin.
USA waren die Ersten
Der Ursprung von Housing First liegt in den USA. Dort wurden Ende des vergangenen Jahrtausends Alternativen zum herkömmlichen System von Notunterkünften und vorübergehender Unterbringung entwickelt. In Salt Lake City etwa konnte die Obdachlosigkeit um rund 80 Prozent reduziert werden. In Kanada wurden auch wohnungslose Menschen mit psychischen Erkrankungen angesprochen – mehr als 70 Prozent wohnten nach zwei Jahren noch in gesicherten Mietverhältnissen.
In Finnland gilt das Housing First-Angebot auch für gewalttätige Menschen und junge Drogenabhängige. Für sie ist ein besonders hoher Betreuungsschlüssel nötig. Belgien hat soziale Wohnungsagenturen geschaffen, die Wohnraum für Obdachlose akquirieren. Und in Dänemark gibt es das Programm „Schräge Wohnungen für schräge Existenzen“: Gefördert werden Wohnangebote für Menschen, die in normalen Wohnungen nicht klarkommen. Das können beispielsweise Hausboote oder kleine Holzhaussiedlungen sein.