RND-Interview

Autorin Judith Hermann: „Ich bin in der Literaturkritik durch einige Fegefeuer gegangen“

Schreibt immer an ihrem Leben entlang: Autorin Judith Hermann.

Schreibt immer an ihrem Leben entlang: Autorin Judith Hermann.

Hannover. Frau Hermann, vor 25 Jahren erschien Ihr Debüt „Sommerhaus, später“, das jetzt in einer Neuausgabe herausgekommen ist. Wie erinnern Sie sich an die junge Autorin von 28 Jahren, die Sie damals waren?

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Ich möchte sagen, dass ich damals noch gar keine Autorin gewesen bin. „Sommerhaus, später“ ist zu einem großen Teil während eines Arbeitsstipendiums im Günter-Grass-Haus in Wewelsfleth entstanden, das war ein Stipendium für junge Autoren und für unveröffentlichte Texte. Ich kam von der Berliner Journalistenschule und hatte vom Schreiben literarischer Texte nicht den blassesten Schimmer; als ich das Stipendium bekam, war das ein Sprung ins kalte Wasser. Das erste Buch ist etwas Einzigartiges, weil man es nur für sich selbst schreibt und für niemanden sonst. Man weiß nichts vom Leser, nichts von Kritikern und erst recht nichts vom Literaturbetrieb. Es gibt eine große Erwartung, aber die hat man an sich selbst, es ist nicht die Erwartung der Leserschaft oder die des Betriebes. Ich erinnere mich an ein absolut freies und unbefangenes, an ein angstloses Schreiben. An Vorfreude. Ich habe mich überhaupt nicht als Autorin gesehen, ich habe erste Schritte gemacht und angefangen, in Geschichten zu denken.

Der Erwartungsdruck beim zweiten Buch war hoch

Hat der immense Erfolg Ihres Debüts Sie unfrei gemacht?

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Ja, eindeutig. Ich will mich über den Erfolg in keiner Weise beklagen, aber es ist mir schwergefallen, ihn als beglückend zu empfinden. Der Erfolg hat tatsächlich dazu geführt, dass ich ziemlich ängstlich wurde, erschöpft von den langen Lesereisen, unsicher und verzagt, total nervös. Ich empfand den Erwartungsdruck für das Schreiben des zweiten Buches als sehr hoch.

Es wurde ernst?

Es wurde in gewisser Weise ernst, ja. Ich hätte viele Dinge gern in der Unschärfe gelassen, zum Beispiel die Frage danach, ob ich aus dem Osten oder aus dem Westen kommen würde. Mal so, mal so – je nachdem. Aber plötzlich konnte ich damit nicht mehr spielen, sondern musste mit allem ernst sein. Vor allem mit dem Schreiben ernst sein. Das hatte in den ersten Jahren etwas sehr Belastendes und Einengendes, und es hat dazu geführt, dass ich mir bis heute für meine Bücher so viel Zeit wie möglich lassen will. Ich muss zurück ins Eigene kommen.

Damals wurden Sie und weitere junge Autorinnen als literarisches „Fräuleinwunder“ bezeichnet. Hat dieser Begriff Sie wütend gemacht?

Heute wäre dieser Begriff nicht mehr gestattet und vermutlich würde er auch niemandem mehr einfallen. Mit dem Abstand von 25 Jahren kann ich das Despektierliche daran, das Kleinmachende, Von-oben-herab-Sprechende durchaus sehen. Damals habe ich das nicht gesehen, sondern mich nur darüber gewundert, dass die Dinge immer eine Kategorie brauchen, eine Einordnung, und sei sie noch so schlicht. In der Enge dieser Fräuleinwunderschublade steckten wir alle drin: Karen Duve, Julia Franck, Zoë Jenny, ich und andere Autorinnen, und jede musste zusehen, wie sie schnellstmöglich wieder rausfand.

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Wahrscheinlich war der Begriff einfach nur der Versuch, einem Phänomen einen Namen zu geben.

Mag sein, aber das ist kein schönes, geschweige denn ein kluges Wort dafür gewesen. Es hatte etwa Onkelhaftes und sagt letztlich mehr über den Onkel aus als über die Autorinnen. Aber wenn wir uns heute damit auseinandersetzen, wie wir sprechen und wie wir sprechen sollten, dann kommt mir der Begriff vom Fräuleinwunder im Vergleich zu dem, was in diesen Jahren formuliert und durch die sogenannten sozialen Medien potenziert wird, geradezu harmlos vor.

Die „hervorragende“ Autorin

Das Lob kam von höchster Stelle: „Wir haben eine neue Autorin bekommen, eine hervorragende Autorin. Ihr Erfolg wird groß sein“, sagte Marcel Reich-Ranicki 1998 im „Literarischen Quartett“ über Judith Hermann und ihr Debüt „Sommerhaus, später“. Der Literaturkritiker sollte recht behalten. Der Band mit Erzählungen wurde zu einem sensationellen Erfolg, er verkaufte sich rund 250.000-mal, wurde in 17 Sprachen übersetzt und galt als Buch, das das Lebensgefühl einer ganzen Generation spiegelte. Geboren wurde Hermann 1970 in Berlin. Sie besuchte die Berliner Journalistenschule, arbeitet seit ihrem Debüt als freie Autorin. Hermann schreibt vor allem Kurzgeschichten. 2003 erschien ihr zweites Buch, der Erzählungsband „Nichts als Gespenster“. Neben Bänden mit Erzählungen veröffentlichte sie zwei Romane. Für den Roman „Daheim“ (2021) wurde die Autorin unter anderem mit dem Bremer Literaturpreis und dem Preis der Literatour Nord ausgezeichnet. Den Kleist-Preis gab es bereits 2001 für das Debüt. In diesen Tagen kommt Hermanns neues Buch auf den Markt: „Wir hätten uns alles gesagt“ (S.-Fischer-Verlag, 187 Seiten, 23 Euro). Zeitgleich erscheint in dem Verlag eine Neuausgabe von „Sommerhaus, später“ (189 Seiten, 23 Euro). Die Autorin lebt in Berlin und in Friesland. Im Wangerland hat sie – ähnlich wie die Hauptfigur in „Daheim“ – seit ein paar Jahren ein Haus.

Ihr Debüt liegt jetzt in einer Jubiläumsleinenausgabe vor. Fühlen Sie sich als moderne Klassikerin?

Diese schöne Ausgabe ist eine große Ehre. Und ich empfinde sie als ein Geschenk meines Verlags. Und sie vermittelt mir auch ein bisschen das Gefühl, als wäre ich gestorben. Und sie ist eine Zäsur.

Eine Zäsur in welcher Hinsicht?

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In „Wir hätten uns alles gesagt“ schreibe ich über mein Schreiben, ich versuche, Zusammenhänge zu formulieren, und ich löse sie wieder auf, es entsteht eine Chronologie. Ich räume auf. Ein Jubiläum ist eine Erinnerungsfeier, und in diesem Zusammenhang hat der chronologische Rückblick auf mein Schreiben etwas Beunruhigendes für mich. Das erste Buch in Leinen und dieses bisher letzte Buch – es fühlt sich so an, als wäre „Wir hätten uns alles gesagt“ nun ein Fazit, ein Schlusspunkt. Aber von einem solchen Schlusspunkt bin ich weit entfernt.

"Wir hätten uns alles gesagt": Jetzt erscheint Judith Hermanns Frankfurter Poetikvoresung als Buch.

„Wir hätten uns alles gesagt“: Jetzt erscheint Judith Hermanns Frankfurter Poetikvorlesung als Buch.

„Wir hätten uns alles gesagt“ ist das Manuskript Ihrer Frankfurter Poetikvorlesung, die Sie 2022 gehalten haben. War es schwierig für Sie, über Ihr Schreiben Auskunft zu geben?

Die Aufgabe, über das eigene Schreiben zu schreiben, ist paradox – sie ist eine Aufforderung zum Geheimnisverrat. Das Paradoxe war kompliziert. Die beruhigend gemeinte Anmerkung meines damaligen Lektors und heutigen Verlegers Oliver Vogel, ich könne machen, was ich wolle, hat es nicht leichter gemacht. Einfacher wurde es durch die Vorstellung des Prozederes der Vorlesung – ich habe mir vorgestellt, dass ich in die Universität gehe, lese, wieder nach Hause gehe, mein Text bleibt also bei mir, er ist ein Manuskript, er gehört niemandem. Hätte ich gewusst, dass aus der Vorlesung ein Buch werden wird, hätte ich anders geschrieben. Vielleicht ist das ein glücklicher Umstand gewesen.

In Ihrem Text heißt es an mehreren Stellen: Schreiben bedeutet Zeigen und Verbergen. Was ist wichtiger?

Oh – das Verbergen. Ich kann aber nur verbergen, wenn ich vorher etwas gezeigt habe. Im Wort verbergen steckt das Wort bergen – im Sinn von aufheben, aber auch im Sinn von verstecken, behüten. Und um etwas behüten zu können, muss ich es zunächst aufgeschrieben und kenntlich gemacht haben. Die Dinge aufzuschreiben und zu formulieren ist für mich ein Weg, sie zu begreifen. Ihre Verbindungen, Querverbindungen und Verweise erkennen oder zumindest erahnen zu können. Erst wenn ich sie aufgeschrieben habe, kann ich sie wieder zurückziehen, sie im doppelten Boden verschwinden lassen.

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Sie schreiben stets an Ihrem Leben entlang. Ist das neue Buch persönlicher und privater als frühere Texte?

Ich würde vorsichtig sagen wollen: sowohl als auch. Ich habe mehr erzählt – also habe ich, der Logik des Zeigens und Verbergens zufolge, auch mehr versteckt. Die kleinen Ausflüge in die Kindheit, die Schilderungen meiner Familie, meiner Großmütter, meiner Eltern und Geschwister – das ist alles nah dran an Dingen, die gewesen sind, trotzdem habe ich alles verändert. Ich habe das Schreiben an der Poetikvorlesung wie ein Verhör empfunden. Ich habe eine Wahrheit gesagt und zugleich eine neue erfunden.

Manches aus diesen „kleinen Ausflügen“ klingt schmerzhaft, etwa wenn Sie von einem langjährigen Psychiatrieaufenthalt Ihres Vaters erzählen. Sie schreiben: „Ich bin das traumatisierte Kind eines depressiven Vaters.“ Fürchten Sie sich davor, jetzt mit diesem Kind gleichgesetzt zu werden?

Als ich in der Frankfurter Universität an diese Stelle gelangt bin, war ich emotional und das Publikum war empathisch. Das hatte etwas Befreiendes. Ich war erwachsen genug, um diesen Satz auszusprechen. Er war beim Schreiben erleichternd, aber er ist zugleich auch der uninteressanteste Satz der ganzen Vorlesung – er ist schlicht sachlich. Ernüchternd. Es gibt diese chinesische Weisheit: Die Angst vor dem Feind ist immer größer als der Feind. Die Angst davor, die Dinge auszusprechen, ist immer schwächender und verstörender als der Moment, in dem man sie, so beiläufig wie möglich, benennt. In Frankfurt ist das so gewesen – wie es mir damit ergehen wird, mit dem Buch auf Lesereise zu gehen und darüber zu sprechen, wird sich zeigen.

Bei jedem Text gibt es Reue und Bedauern

Sind Sie nervös?

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Ich bin bei jedem Buch, das erscheint, nervös, ja. Naheliegend, oder? Kurz vor Erscheinen dämmert mir, dass es kein Zurück gibt, keinen neuen Versuch, ich darf den Text nicht noch mal von vorn anfangen. Das ist immer wieder ein erstaunliches und merkwürdiges Gefühl, es gibt immer Reue, ein Bedauern und Zögern. Ich bin ja alt genug und bin in der Literaturkritik durch einige Fegefeuer gegangen, aber letztlich bin ich mit den Reaktionen auf ein Buch doch immer total allein. Und das ist jedes Mal eine Herausforderung.

Warum Reue? Hätten Sie an dem Text noch arbeiten wollen?

Wenn es nicht den Lektor, den Verlag und einen vereinbarten Abgabetermin gäbe, würde ich vermutlich bis ans Ende aller Tage umstellen, streichen, verwerfen, von vorn anfangen. Es ist ein endloser Prozess, beinah hypnotisch, es ist schwer, ein Ende zu finden. Dieser Prozess ist jetzt für eine Weile unterbrochen, aber im Grunde schreibe ich dann doch weiter, gehen alle meine Bücher ineinander über. Jedes weitere Buch korrespondiert mit dem davor geschriebenen.

In vielen Ihrer Bücher geht es um Häuser. Woher kommt Ihre Obsession für Häuser?

Ich glaube, ich bin so obsessiv mit den Häusern, weil meine Familie eigentlich kein eigenes Haus hatte. Ich habe eine sehr große Familie, und wie viele Familien ist sie glücklich und unglücklich, wir hängen aneinander, wir sind einander verbunden. Wir haben kein eigenes Haus gehabt, an und für sich keinen Besitz gehabt. Aber es gibt dieses erstaunlich beständige Haus meiner Großmutter in Friesland, ein richtiges Erbe. Wir heben dort die Dinge auf, mit denen wir nicht leben wollen, von denen wir uns aber auch nicht trennen können, wir tun das in der dritten Generation, mittlerweile lässt auch mein Kind, lassen auch die Kinder meiner Geschwister ihre Dinge dort. Das Haus ist ein Kokon für die Familiengeschichte, für ihre Zerwürfnisse und Versöhnungen. Man kann so vieles aufheben und später noch einmal herausholen, ansehen und neu befragen. Das Haus ist ein Archiv, alle Häuser sind Archive. Für diese chaotische Familie, aus der ich komme, ist dieses Haus ein großes Geschenk.

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Sie leben ganz in der Nähe?

Ja, und ich genieße es, manchmal dorthin zu fahren. Aber ich könnte dort niemals leben, ich würde über kurz oder lang verrückt werden. Ich kehre sehr gern in mein eigenes, leeres und autonomes Haus zurück.

Aber nicht nur Häuser sind Archive, Bücher doch auch, oder?

Bücher sind das auch, ja. Meine sieben Bücher sind wie sieben Häuser, und in jedem Buch oder Haus steckt ein großer und wichtig gewesener Teil meines Lebens. Ich bin für unser Familienhaus dankbar, aber für meine Bücher bin ich vielleicht noch ein bisschen dankbarer.

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