Es kam der Tag, da wollten wir nur noch weg
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© Quelle: Harald Stutte
Seltsam, aber wenn ich an meine ersten 18 Lebensjahre denke, dann läuft da in meinem Kopf ein Schwarz-Weiß-Film. Was wohl auch daran liegt, dass es kaum Farbfotos aus dieser Zeit gibt. Doch auch das „wahre Leben“ im Leipzig der 70er- und 80er-Jahre spielte sich in einem Spektrum der Grautöne ab – grau wie die bröckelnden Fassaden der vernachlässigten Häuser oder die vom Industriestaub gedunkelten Dächer. Anthrazitgrau wie das fast 100 Meter hohe Völkerschlachtdenkmal, das sich in seiner klobigen Wucht über unserem Stadtteil Marienbrunn aufbaute wie der japanische Monsterdrache Godzilla.
Grau wie die Hemden der Polizei, grau wie die Wäsche, die zum Trocknen im Hinterhof auf Leinen hing und die uns nass ins Gesicht klatschte, wenn wir Kinder beim Herumtoben den Kopf nicht tief genug senkten. Grau vom Wind, der die von Aschepartikeln schwangere Luft mal aus dem südlichen Böhlen und Espenhain mit ihren Kohlekraftwerken, mal aus den Chemiewerken Wolfen und Bitterfeld im Norden zu uns wehte.
„Die Deutsche Demokratische Republik – Retter des Friedens“
Für Farbtupfer in diesem Meer aus Grau sorgten nur die Flaggen und Propagandatafeln, weiße Schrift auf rotem Grund, die für gute Laune sorgen sollten: „Die Deutsche Demokratische Republik – Retter des Friedens“ oder „Unser Arbeitsplatz – Kampfplatz für den Frieden“. Kampf, Frieden, Arbeit, Volk – der Wortschatz der Mächtigen war überschaubar.
Und dann waren da diese irren 80er-Jahre, in die ich, Jahrgang 1964, noch als langhaariger Parkaträger auf flachen Wildlederschnürschuhen geschlichen bin. Tramper wurde dieser ostdeutsche Kultschuh genannt. Schnell erlagen wir der Musik, dem Style dieses flirrenden Jahrzehnts – hörten Punk, Synthie-Pop, New Wave, schnitten uns alsbald die Haare kurz, färbten sie, die Klamotten gleich mit. Wir klebten am Fernseher, inhalierten jedes Detail der neuen Videoclips von Clash, Depeche Mode, New Order oder David Bowie.
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Ostdeutsche Farbenlehre: Bunt waren oft nur die Propagandatafeln wie diese hier auf der Bösebrücke an der Bornholmer Straße in Berlin.
© Quelle: picture alliance / Zettler
Wir, das waren meine Freunde. Man hatte uns den direkten Weg zum Abitur über die Erweiterte Oberschule, ostdeutsche Variante des Gymnasiums, verweigert – trotz guter Leistungen. Denn ich hatte mich nicht bereit erklärt, länger Wehrdienst zu leisten, verweigerte auch das „gesellschaftliche Engagement“, das über die reine Mitgliedschaft in der „Freien Deutschen Jugend“ hinausging.
„I-Kinder“ waren weniger förderwürdig
Zudem hatte ich im Klassenbuch der Schule hinter meinem Namen schon früh den Buchstaben „I“ entdeckt. „I-Kinder“ – was die soziale Herkunft „Intelligenz“ betraf, weil mein Vater Ingenieur war – waren weniger förderwürdig als „A-Kinder“. Deren Eltern wurden der Arbeiterklasse zugerechnet, worunter auch Berufe mit Systemnähe fielen.
Also blieb uns nur der Umweg über eine Berufsausbildung mit Abitur. So war es kein Zufall, dass wir als Schulklasse ein rebellischer Haufen waren – stets auf Crashkurs zum apodiktisch-maßlosen System, das uns die Luft zum Atmen nahm. Früh reifte bei mir der Entschluss: Ich muss hier raus! Das Abi machen, volljährig werden – dann nix wie weg. Denn nach der Schule, da gab es keine Ausnahme, begann mit dem Wehrdienst ein Leben nach sozialistischer Blaupause. Sommer 1984 – das war die letzte Ausfahrt.
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Fahrgäste steigen am Tröndlinring in der Innenstadt von Leipzig in eine Straßenbahn der Linie 15 die nach Lindenau fährt; im Hintergrund der Hauptbahnhof. Foto: dpabilderarchiv
© Quelle: picture-alliance / dpa
Was für heutige Generationen wie eine Selbstverständlichkeit klingt – zu gehen, wenn einem danach ist –, war in der DDR lebensgefährlich. 1981 hatten drei 16-Jährige aus meinem Freundeskreis spontan versucht, die Mauer im Harz zu überwinden – was einer mit seinem Leben bezahlte. Schon der Gedanke an „Republikflucht“ wurde mit hohen Freiheitsstrafen sanktioniert.
Damals bildeten sich in Leipzig die ersten Zellen jener Bewegungen, die das System später zur Implosion bringen sollte. Leise, kaum wahrnehmbar. Es gab mutige Menschen, die machten gegen die Umweltzerstörung mobil, gegen den Verfall Leipzigs, es gab Hausbesetzer, Punks, Friedensaktivisten. Wir suchten ihre Nähe und hatten doch eigentlich mit dem Ganzen längst abgeschlossen.
Asyl im „Eden“
Wir waren wie besoffen von diesem 80er-Jahre-Hype und verbrachten Nächte im Eden. Als „Popper-Disco“ verschrien war das Eden eher ein Tempel der Vielfalt mit guter Musik, Drinks, Party – und Mädchen in kurzen Röckchen und mit stylishen Frisuren. Im Eden verkehrte eine Parallelwelt, die am nächsten Morgen nicht in die zugigen Hallen volkseigener Betriebe flutete. Und falls doch, dann mit Augenringen.
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Letzte Aufnahmen in Freiheit: Der Autor (rechts) mit seinem Freund „Koma“ im Sommer 1984 in Budapest. Aufgenommen von einem österreichischen Fernsehteam wenige Tage vor dem Versuch, den Ostblock zu verlassen.
© Quelle: Harald Stutte
Leute mit hell-dunkel-abgesetzten Haarfontänen, ausrasierten Nacken, breiten Seitenscheiteln, egal ob hetero, schwul, unentschieden – alles fand im Eden Asyl. Man tat furchtbar aufgeregt, wenn man sich begrüßte, obwohl man sich ja am Abend zuvor erst gesehen hatte, stets gab es Küsschen.
Wir tranken abscheuliche Mixgetränke wie „Kirschwhisky-Cola“. Hatten wir kein Geld, bestellten wir den Eisbären-Flip – für lau. Der bestand aus Eiswürfeln und Wasser, wurde im Longdrinkglas mit Halm serviert und war wie vieles im Eden: gut aussehend, aber inhaltsleer. Aus heutiger Sicht kam das Eden nie über das Level einer Dorfdisco im Spessart hinaus. Doch was wussten wir schon vom New Yorker Studio 54 oder anderen Clublegenden. Für uns war es die Parallelwelt, die auch werktags das „Saturday Night Fever“ befiel – falls sich ihre Tore öffneten. Dass wir rein durften, fühlte sich an wie ein gutes Omen – wichtigere Tore betreffend.
29. April: Buchlesung, "Wir wünschten uns Flügel" von Harald Stutte
Über seine Jugend in der DDR bis zum Abitur, über den Versuch, das Land zu verlassen und über seine Zeit in Haft hat Harald Stutte das Buch „Wir wünschten uns Flügel“ geschrieben, das im Februar 2023 bei Rowohlt erschienen ist. Am 29. April, 11 Uhr, liest der Autor daraus im Leipziger Museum Runde Ecke im Rahmen der Leipziger Buchmesse.
Wunschstudium verweigert
An einem Tag Mitte Juni 1984 wurde uns in der Alten Börse in der Innenstadt das Abiturzeugnis überreicht. Mein Wunschstudium, Journalismus oder Geschichte, blieb mir versagt. Einige Tage später brachen wir in Richtung Südosteuropa auf. Unsere Mission: irgendwo die Lücke im Eisernen Vorhang finden.
Natürlich scheiterten wir. In letzter Verzweiflung, uns lief die Zeit davon, fragten am 8. August 1984 im Hafen des bulgarischen Grenzortes Achtopol ein paar Fischer, ob sie uns in die Türkei bringen würden. Wir hatten 100 DM und 30 Dollar dabei. Sie lehnten ab, schickten uns die Grenzpolizei auf den Hals. Die Party war zu Ende.
Mein letztes Kapitel als DDR-Bürger erlebte ich als „SG“, Strafgefangener. Eigentlich ein simpler Vorgang – ein paar Teenager wollten raus. Doch für das paranoide, auf Misstrauen basierende System des Stasi-Chefs Erich Mielke war selbst der dilettantische Fluchtversuch Halbwüchsiger eine Art Staatsaffäre.
Vier Monate Dauerverhör, Hunderte Seiten Protokolle, Hausdurchsuchungen und Recherchen im Verwandten- und Freundeskreis folgten nach meiner Überführung in einem der Stasi gehörenden Kleinflugzeug von Sofia nach Ostberlin.
Ihnen wird Gälähschenheit gägäb‘n, Ihre bisher gemachten Aussach‘n zu ergänzen und zu berischtigen!
Fragen des Stasi-Vernehmers im breitesten Sächsisch
Die Vernehmungen im Leipziger Stasi-Knast führte ein Mittdreißiger, der sich mir zunächst nur als „Unterleutnant“ vorstellte und sich nach dem DDR-Feiertag am 7. Oktober „Leutnant“ nennen ließ. Die Vernehmungen begannen stets mit der gleichen Phrase im breitesten Sächsisch: „Ihnen wird Gälähschenheit gägäb‘n, Ihre bisher gemachten Aussach‘n zu ergänzen und zu berischtigen!“
Stutte antwortet stets: „Ich habe meinen bisherigen Aussagen nichts hinzuzufügen.“ Das habe ich den Akten entnommen, die ich zur Recherche meines Buches erstmals gelesen habe „Stutte gibt nur zu, was er glaubt zugeben zu müssen“, steht da. Wie überraschend!
![Zwei Kinder spielen mit ihren Fahrrädern auf einer Straße in der sächsischen Stadt Leipzig. Aufnahme vom 12.3.1989. [dpabilderarchiv]](https://www.gnz.de/resizer/a4qs8BCLYudrJDFdP4ecqaO97as=/428x284/filters:quality(70):format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/IJABNQQBLJFCHA5HK4Y2ZEAV4U.jpg)
Zwei Kinder spielen mit ihren Fahrrädern auf einer Straße in der sächsischen Stadt Leipzig. Aufnahme vom 12.3.1989. [dpabilderarchiv]
© Quelle: picture-alliance / dpa
Die Protokolle dokumentieren ein sich hinziehendes Katz-und-Maus-Spiel. „Wer ist dieser ominöse amerikanische Staatsbürger Zane Szegfu, dessen Adresse auf einem Zettel steht?“ Wir hatten in Budapest gleichaltrige Jungs aus New Orleans kennengelernt und mit ihnen mehrere Tage gefeiert. Ich musste mich zu Dingen äußern, die in meinen Zimmer beschlagnahmt wurden: Plaketten der polnischen Gewerkschaft Solidarnosc, pazifistische Aufnäher der DDR-Opposition mit dem Symbol „Schwerter zu Pflugscharen“, ein selbst gemaltes Schild mit einem durchgestrichenen Panzer.
Bereits seit dem 9. Schuljahr orientierte sich Stutte regelmäßig an politischen Sendungen von BRD-Funkmedien, woraus in der Folgezeit Zweifel an der Richtigkeit der sozialistischen Entwicklung in der DDR erwuchsen und eine Hinwendung zum Gedankengut bürgerlicher Philosophen erfolgte …
Aus der Schlussbericht der Staatssicherheit
„Bereits seit dem 9. Schuljahr orientierte sich Stutte regelmäßig an politischen Sendungen von BRD-Funkmedien, woraus in der Folgezeit Zweifel an der Richtigkeit der sozialistischen Entwicklung in der DDR erwuchsen und eine Hinwendung zum Gedankengut bürgerlicher Philosophen erfolgte …“, lese ich im Schlussbericht der U-Haft.
Der Autor heute vor einem Flugzeug vom Typ TU 134A auf dem Flugplatzmuseum Cottbus e.V. In einer solchen Maschine war er vom DDR-Geheimdienst Staatssicherheit 1984 aus Bulgarien in die DDR geflogen worden.
© Quelle: Harald Stutte
Acht Monate in einem „echten“ Knast in Naumburg schlossen sich an, inklusive Zwangsarbeit für die schwedische Gute-Laune-Möbelmarke Ikea. Wer 13,5 Monate in den Gefängnissen einer Diktatur gesessen hat, weiß Rechtsstaatlichkeit zu schätzen: Man war der Willkür ausgeliefert, von Informationen abgeschnitten, hatte keinen Rechtsbeistand, der den Namen verdient, wurde zum Objekt degradiert.
Für mich fiel die Mauer – die meines kleinen als auch des großen Gefängnisses DDR – am 18. September 1985, einem warmen Spätsommertag. In einem beigefarbenen Bus der schwäbischen Marke Magirus-Deutz wurden wir, gut zwei Dutzend bleiche Häftlinge, die alle mindestens zwölf Monate wegen Nichtigkeiten in DDR-Gefängnissen gesessen hatten, von Chemnitz, damals Karl-Marx-Stadt, Richtung Gießen gefahren.
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Der „Mugshot“, wie die Fotos Inhaftierter heute auch genannt werden, zeigt den Autor kurz nach seiner Inhaftierung im September 1984 durch die Staatssicherheit, den DDR-Geheimdienst.
© Quelle: Harald Stutte
Die Bundesrepublik hatte uns freigekauft. Für je 95.847 D-Mark verscherbelte der selbst ernannte Arbeiter- und Bauernstaat seine renitenten Kinder, die man zuvor aus belanglosen Gründen eingesperrt hatte: Wegen einer am Telefon geäußerten Absicht, die DDR zu verlassen, eines an eine Wand geschmierten Aufrufs für freie Wahlen oder eben eines dilettantischen Fluchtversuchs. Bezahlt wurde unsere Freilassung mit Kaffee, Rohstoffen, Südfrüchten, Naturkautschuk.
Die Tage im September 1985 und mein neues Leben empfand ich wie einen nicht enden wollenden Rausch, der sich nicht in Naturkautschuk oder Bananen aufwiegen ließ. Alsbald feierten wir Wiedersehen mit Freunden, die auf ganz unterschiedlichen Wegen die DDR verlassen hatten. Es waren kleine Dinge, die ganz große Gefühle auslösten: Auf ein Konzert von Iggy Pop gehen, ein Buch lesen, das nicht der Zensur anheim fiel, ein Wochenende bei Freunden in Kopenhagen. Und endlich das studieren, was ich wirklich wollte.