Wie der Oscarfilm „Nawalny“ zwischen die Fronten geriet
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Julija Nawalnaja (Zweite von links), Wirtschaftswissenschaftlerin und Ehefrau des russischen Oppositionsführers Alexej Nawalny, und Mitglieder der Crew von „Nawalny“ nehmen den Oscar für den besten Dokumentarfilm in Los Angeles entgegen.
© Quelle: Chris Pizzello/Invision/AP
Einige ukrainische Politiker sind auf die Oscar-Academy nicht gut zu sprechen: Überall in der Filmwelt durfte ihr Präsident Wolodymyr Selenskyj per Video für sein Land eintreten. Eine regelrechte Festivaltournee hat er im vergangenen Jahr hingelegt und ist mit stehenden Ovationen in Cannes, Venedig und im Februar auch bei der Berlinale empfangen worden. Ebenso meldete er sich bei den Golden Globes zu Wort.
Aber ausgerechnet die Academy of Motion Picture Arts and Sciences (AMPAS) lehnte nun schon zum zweiten Mal in Folge seinen Wunsch ab, bei der Oscargala eine Botschaft im Namen seines geschundenen Landes an die Welt schicken zu dürfen. Die Academy wollte sich lieber aus der Politik heraushalten – wohl auch, um kein Exempel zu statuieren. Es gibt außerhalb von Europa noch viele andere Kriege auf diesem Planeten.
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Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba war über diese Zurückhaltung erbost, gerade weil der deutsche Beitrag „Im Westen nichts Neues“ über einen früheren Krieg in Europa eine so entscheidende Rolle bei der Verleihung spielte und er darin Parallelen zur mörderischen Gegenwart in der Ukraine sah. Kuleba nannte die Absage an Selenskyj ein „Beispiel für die Heuchelei von Topmanagern und Produzenten der Filmindustrie“.
Dann aber kam es aus ukrainischer Sicht noch schlimmer: Ein Dokumentarfilm über den in Russland in Haft sitzenden Kremlkritiker Alexej Nawalny gewann den Oscar. In der Konkurrenz war ebenso die ukrainische Koproduktion „Heimweh – eine Kindheit zwischen den Fronten“ des dänischen Regisseurs Simon Lereng Wilmont vertreten. Der Film erzählt von vernachlässigten und elternlosen Kindern in einem Heim in der Ostukraine, die in die Kriegswirren geraten.
Doch den Sieg trug „Nawalny“ des kanadischen Regisseurs Daniel Roher davon. Roher sagte in seiner Dankesrede in Hollywood: „Alexej, die Welt hat deine wichtige Botschaft nicht vergessen. Wir können und dürfen uns nicht scheuen, uns Diktatoren und Autoritarismus entgegenzustellen.“ Nawalnys Ehefrau Julija träumte auf der Oscarbühne vor Millionen Zuschauerinnen und Zuschauern von dem Tag, an dem ihr Mann und ihr Land frei sein würden.
In der Ukraine ist Nawalny keine Lichtgestalt
Der Film „Nawalny“ rekapituliert den Nervengift-Mordanschlag auf den Oppositionellen im August vor drei Jahren und die Aufklärung durch das internationale Rechercheteam Bellingcat in Zusammenarbeit mit Nawalny selbst. Er überlebte die Attacke durch Putins Geheimdienst-Handlanger mit Glück, erholte sich davon in Deutschland und kehrte dann nach Moskau zurück, obwohl er wusste, was ihn dort erwarten würde. Seitdem wird er in Gefängnissen und Lagern weggesperrt. Der Film lässt sich durchaus als Aufruf Nawalnys verstehen, Putin aus dem Kreml zu vertreiben.
In der Ukraine hat diese Oscarentscheidung offenbar dennoch Bitterkeit ausgelöst. Das dürfte vor allem daran liegen, dass der Kremlkritiker Nawalny in der Ukraine keinesfalls als Lichtgestalt wie zumeist im Westen gesehen wird.
Was in dem „Nawalny“-Film nur am Rande thematisiert wird, ist dessen frühere Nähe zu Nationalisten. Einst marschierte Nawalny mit Rechtsradikalen in Moskau. Besonders seine mindestens unklare Haltung zur Besetzung der Krim 2014 entsetzte die Menschen in der Ukraine: „Ist die Krim ein Sandwich oder etwas, das man nehmen und zurückgeben kann? Das glaube ich nicht“, sagte er damals.
Diesen Satz hat man in der Ukraine nicht vergessen, auch wenn Nawalny aus der Haft das Blutvergießen in der Ukraine als „Krieg eines tollwütigen Verrückten“ scharf verurteilt hat. Im Februar sprach er sich auf Twitter gegen die imperialen Fantasien Russlands aus und plädierte für einen Weg seines Landes in die Demokratie, und zwar ohne Putin.
Der Ukrainer Azad Safarov aus dem „Heimweh“-Filmteam sieht im Sieg der russischen Doku einen Sieg der russischen Propaganda. Diese wisse, „wie man Pseudohelden fördert, wo es keine Helden gibt“, zitiert ihn die US-amerikanische Tageszeitung „Politico“. In den sozialen Medien in der Ukraine sind hämische Reaktionen zu finden. „Nawalny hat seinen Oscar verdient, denn er hat einen russischen Oppositionellen ziemlich gut gespielt“, ließ sich der ukrainische Stand-up-Comedian Anton Tymoschenko vernehmen.
So ist das Kino bei den Oscars zwischen die Fronten des Krieges geraten. Dass die gut 10.000 Academy-Mitglieder sich lediglich zwischen zwei schon vielfach gepriesenen Dokumentationen entschieden haben, geht in dieser aufgehetzten Stimmung unter. Es standen nicht zwei sich bekriegende Nationen zur Wahl, sondern zwei sehenswerte Filme. Kunst ist durchaus politisch und gern auch parteiisch. Aber es schadet ihr, wenn sie in den Sog der politischen Parteilichkeit gezogen wird.