Vorentscheid gewonnen

Gothic-Rock beim ESC: Lord Of the Lost fahren für Deutschland nach Liverpool

Im Konfettiregen: Lord of the  Lost feiern beim ESC-Vorentscheid.

Im Konfettiregen: Lord of the Lost feiern beim ESC-Vorentscheid.

Sie standen schon mit Iron Maiden auf der Bühne, sie legten die mit Abstand feurigste Show hin – und nun fahren sie zum Eurovision Song Contest (ESC): Die Hamburger Gothic-Metal-Band Lord of the Lost vertritt Deutschland beim größten Musikwettbewerb der Welt am 13. Mai in Liverpool. In einer musikalisch erneut erschreckend durchschnittlichen Show lieferten die Musiker um Sänger Chris Harms (43) die mit Abstand energiereichste und spektakulärste Nummer ab. „Wir sind eine Band und beste Freunde“, sagte Harms nach dem Sieg. Das wird ein Sommer.

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Den Auftakt der ARD-Show hatte Sänger Trong aus Bad Kissingen („Dare to Be Different“, Platz vier) gemacht, den Moderatorin Barbara Schöneberger nach mehreren Initiativbewerbungen beim ESC-Team etwas grobschlächtig als den „Menderes der ARD“ ankündigte. René Miller („Concrete Heart“) sang von einem selbst gebauten Felsen herunter Tiefgemeintes. Anica Russo aus Oldenburg schließlich lieferte, halb verborgen in dekorativem Schilfrohr, eine ESC-taugliche und perfekt gesungene Powerballade namens „Once Upon a Dream“. Die Ex-Schülerband Lonely Spring („Misfit“) versuchte sich dagegen allzu artig an Punkrock.

Votingwütige Ikke-Hüftgold-Fans

Will Church, entfernt an den Sängerkollegen Hozier erinnernd, sang mit spektakulär stabiler Kopfstimme eine elegische Ballade („Hold On“) und landete am Ende auf Platz drei. Und Patty Gurdys „Melodies of Hope“ war trotz imposanter Drehleier leider doch sehr konventionell. Ebenso wie Gesamtkunstwerk und Ballermannsänger Ikke Hüftgold („Lied mit gutem Text“) – der als Vorschlaghammer der zeitgenössischen Saufmusik versuchte, dem Vorgang etwas Ironisches abzupressen. Er blieb auf Ballermannniveau, wurde von den Jurys ignoriert, hat aber eine votingwütige Fangemeinde (Platz zwei). Der Gewinner der Tiktok-Wildcard tat – wenig überraschend – Ikke-Hüftgold-Dinge.

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Lord of the Lost („Blood & Glitter“) dagegen legte eine feurige Glamrock-Show hin und hatte die Halle schnell im Sack. Die Unglücksraben des Abends waren gar nicht erst angetreten: Alina Süggeler, Sängerin von Frida Gold, musste ihre Teilnahme wegen Krankheit absagen.

Ikke Hüftgold beim ESC-Vorentscheid.

Ikke Hüftgold beim ESC-Vorentscheid.

Der ESC ist ein Emotionswettbewerb

Der NDR hatte nach der vielkritisierten Auswahl von 2022 Besserung versprochen. Tatsächlich war die musikalische Bandbreite größer als im Vorjahr. Und gewiss: Jeder einzelne Beitrag war ein artiger, sauber produzierter, leidlich eingängiger Frischkäse-Bagel von einem Song. Aber mit Frischkäse gewinnst du halt keine 200 Millionen Zuschauerherzen. Die Inszenierungen waren nicht unoriginell (Schmerzensfrau im Schilfrohr! Drehleier! Felsenhocker!). Aber der ESC ist vor allem ein Emotionswettbewerb. Man sollte etwas fühlen als Zuschauerin oder Zuschauer. Und da war das Angebot dürftig.

Man muss schon mit einem gewissen Maß an Masochismus ausgerüstet sein, um bei dieser Veranstaltung Jahr für Jahr selbstbewusst an die Rampe zu treten wie Moderatorin Barbara Schöneberger. Ihr Zwangsoptimismus in allen Ehren („Ich hatte bisher jedes Jahr ein gutes Gefühl! Diesmal auch!“) – aber solange der NDR den Wettbewerb als Nachwuchsplattform für ambitionierten Radiopop und gleichzeitig (!) als Retroevent für Käseigel-Romantiker missversteht, wird sich die Elendsstrecke fortsetzen. Es steht zu befürchten, dass Lord of the Lost daran wenig ändert. Immerhin – diese Prognose kann man wagen: Ein Platz unter den letzten fünf in Liverpool ist äußerst unwahrscheinlich. Und das wäre der größte deutsche ESC-Erfolg der letzten Jahre.

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Der Käseigel ist mausetot

Gesucht wird ein Act, der ein Wagnis eingeht, der spontan verzaubert, der herausragt und in 180 Sekunden eine soghafte Wirkung erzeugt. Lord of the Lost ist immerhin eine Band, die Aufmerksamkeit erzeugt. Denn mit Blümchenpop vom Reißbrett wie in den Vorjahren wird man keinen Blumentopf gewinnen. Und wann ist endlich mal Schluss mit der muffigen Schlaghosen-Seligkeit in sämtlichen ARD-Eurovisionssendungen? Wann hört dieses karstige Gequatsche über schlecht angezogene Tänzer von vor 1000 Jahren mal auf? Der Käseigel ist längst mausetot.

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Deutschland ist in den Vorjahren das beeindruckende Kunststück gelungen, wirklich konsequent am europäischen Zeitgeist vorbei zu produzieren. Im einzigen Jahr, in dem ein wirklich hypnotischer deutscher ESC-Beitrag den Restkontinent halbwegs neugierig gemacht hatte (Ben Dolic 2020 mit „Violent Thing“) fiel das Spektakel der Pandemie zum Opfer. Künstlerpech. Man muss kein Miesepeter sein, um die These aufzustellen: Wenn Deutschland als einer der fünf größten Geldgeber nicht für das Finale gesetzt wäre, hätten die hiesigen Hoffnungsträger seit Jahren das Halbfinale nicht überstanden. Ob „Blood & Glitter“ der Song ist, auf den sich Europa im Krisenjahr 2023 einigen kann? Ob dem Publikum der Sinn nach Headbangen steht, um den Nachrichtenfrust zu betäuben?

Seltsame Jurys aus acht Ländern

Wie kam das Ergebnis überhaupt zustande? Das Votingprozedere des Vorentscheids macht inzwischen den legendären „Tutti Frutti“-Spielregeln den Ehrentitel als komplexestes und meistbekichertes TV-Regelwerk der jüngeren Fernsehgeschichte streitig. Hier die Kurzzusammenfassung: 50 Prozent der Punkte wurden von acht Jurys aus acht Ländern vergeben, die jeweils aus fünf Personen mit engeren Bezügen zum Musik- und Showbusiness bestehen. Warum? Man weiß es nicht. Vertreten waren die Schweiz, die Niederlande, Finnland, Spanien, Litauen, die Ukraine, Österreich und Großbritannien. Was war das für eine Unsinnsidee?

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Diese acht willkürlich herbeierfundenen Länderjurys vergaben jeweils 1, 2, 3, 4, 6, 8, 10 und 12 Punkte an ihre favorisierten Titel. Die 7 und die 5 Punkte wurden nicht vergeben. Insgesamt verteilte die Jury also 368 Punkte. Am Ende lag dabei Will Churchs Ballade vorn. Sind Sie noch bei mir? Jetzt noch mal konzentrieren beim Mitlesen! Die anderen 50 Prozent der Wertung stammten von den Zuschauern der TV-Liveshow, abgegeben per Anruf oder SMS, sowie dem Onlinevoting. Oder wie die Verantwortlichen ergänzend anfügen: „Die gleiche Anzahl an Punkten, die von den internationalen Jurys verteilt wurden, werden im prozentualen Verhältnis des deutschen Televotings auf die acht Songs verteilt.“ Ähm, bitte? Da war‘s dann kurz vor Mitternacht doch ein bisschen zu spät, um das wirklich zu kapieren.

Am Ende gewann der lauteste, grellste, unterhaltsamste Beitrag

So bitter das ist: Zeitgemäßer Pop findet im deutschen Linearfernsehen seit Jahren nicht mehr statt. Der ESC-Vorentscheid ändert an dieser Diagnose – genau: gar nichts. Auch der ESC 2023 dürfte im Zeichen des Kriegs in der Ukraine über die Bühne gehen – schon jetzt steht der ukrainische Beitrag bei den Buchmachern weit vorn. Im vergangenen Jahr wurde der ESC in Turin kurzerhand zu einem Solidaritätsfestival für die Ukraine – mit dem Kalush Orchestra als haushohem Sieger. Wo sich die Hamburger Gothic-Rocker einsortieren werden, steht in den Sternen.

Am Ende gewann der lauteste, grellste, unterhaltsamste Beitrag des Abends. Doch auch „Blood & Glitter“ bietet leider wenig Anlass, sich der gewaltigen Pop-Party im Mai in Liverpool mit größeren Hoffnungen zu nähern.

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