Kostspielige Tiktok-Battles: Und plötzlich ist 9Live zurück
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/LYHWL6EIGFANDINHWKJVBIUVRE.jpeg)
Ein neuer Trend bei Tiktok kann für Nutzerinnen und Nutzer der Plattform kostspielige Folgen haben.
© Quelle: Jens Kalaene/dpa-Zentralbild/dpa
Hannover. Der Tiktok-Livestream hat gerade erst begonnen, da wird schon ziemlich viel gebrüllt. „Tippen, tippen, tippen“, ruft ein junger Mann namens Jounes Amiri am laufenden Band. „Wir sind hinten, Leute“, entgegnet ein anderer namens Leon Machère – er hat Nutella im Gesicht.
„Alle zusammen, Leute, noch eine Minute und 30 Sekunden“, heizt Machère das Publikum an. Im Hintergrund ist spannungsgeladene Musik zu hören – oben läuft ein Balken durchs Bild, der zeigt, welches Team gerade vorne liegt.
Das „Tippen, tippen, tippen“ bringt am Ende wenig: Machère verliert mit 2604 Punkten gegen seinen Kontrahenten, der von seiner Community satte 13.777 Punkte einsammeln kann. Die Bestrafung: Machère muss sich zusätzlich zum Nutella nun auch noch Mehl ins Gesicht schütten.
Versprechen werden nicht eingelöst
Ein weiterer Teilnehmer dieser Runde ist Apo Red – einst bekannt als Skandalvideomacher auf der Plattform Youtube. Der heute 28-Jährige war 2018 für seinen berühmt-berüchtigten „Bombenprank“ zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden. Heute ist Apo Red Dauergast in fragwürdigen Tiktok-Battles.
Wieder wird ein Wettkampf veranstaltet, wieder muss ein Lebensmittel dran glauben: Der Verlierer soll sich ein Ei „gegen die Stirn klatschen“, beschließt die Gruppe gemeinsam. Wieder schicken Zuschauerinnen und Zuschauer massenhaft „Punkte“ an ihren Favoriten, wieder heizen die vier Protagonisten des Streams das Publikum an: „Let‘s go, das wird so knapp“, brüllt einer. Immer wieder werden die Namen besonders großzügiger Tipper genannt.
Apo Red verliert schließlich – der Bestrafung kommt er aber gar nicht nach. Der Influencer erklärt, er habe gar keine Eier im Kühlschrank. Stattdessen schmiert er sich ein wenig Ketchup ins Gesicht und verlässt dann den Stream. Die restlichen Anwesenden fahren mit dem nächsten Wettkampf fort.
Fragwürdige Hype
Das, was Apo Red, Leon Machère und ihre Kollegen da auf Tiktok veranstalten, ist seit einigen Monaten auf der Plattform ein riesiger Hype. „Live-Matches“ werden die skurrilen Zusammenkünfte auch genannt. Im sogenannten Splitscreen, einem geteilten Bildschirm mit jeweils einem Fenster für die Kontrahenten, kommen hier verschiedene Nutzerinnen und Nutzer zu einem gemeinsamen Livestream zusammen und veranstalten Wettbewerbe.
Anfangs ging es bei diesen Wettbewerben noch um die Bewertung von Talenten – so wurden etwa Tanzbattles oder Gesangswettbewerbe veranstaltet. Heute gleichen die Livestreams einem bizarren Mix aus Teleshopping-Sender und dem früheren Anrufsender 9Live, der nicht ohne Grund häufig auch als „Abzocksender“ beschrieben wurde.
Psychologische Tricks
Rund um die Uhr werden Zuschauerinnen und Zuschauer angebrüllt, animiert und angebettelt – und das mit allen möglichen psychologischen Tricks. So wird etwa stets die Community in den Vordergrund gestellt und Formulierungen wie „Wir schaffen das zusammen“ genutzt – der Sieg eines Streamers soll als eine Art Gemeinschaftsaufgabe von ihm und seiner Community dargestellt werden.
Nicht selten werden für dieses Gemeinschaftsgefühl auch künstliche Streits erzeugt. Dann sitzen zwei vermeintlich miteinander verfeindete Streamer vor der Kamera, um dort ihren „Beef“ auszutragen. Sie zoffen sich dann so lange, bis der Punktestand hoch genug ist.
Ein anderer Trick ist der künstlicher erzeugte Zeitdruck: Ein Live-Battle geht immer nur einige Minuten – läuft die Zeit ab, werden die Protagonisten immer hektischer und lauter, animieren ihr Publikum, immer mehr Punkte zu senden. Auch das erinnert an die fragwürdigen „Hot-Button“-Gewinnspiele, die in den 2000er-Jahren bei 9Live und zahlreichen Privatsendern über die Bildschirme liefen.
Das Problem an diesen fragwürdigen Live-Wettbewerben: Das Publikum votet nicht einfach nur per Klick für seinen Favoriten. Nein, hinter den Punkten, die ein Influencer oder eine Influencerin bekommt, steckt echtes Geld. Verschickt wird es mithilfe von virtuellen Geschenken, kleinen Animationen, die im Bild auftauchen.
Geldgeschenke für Streamer
Diese Geschenke können etwa Bilder von Rosen, Chilischoten, Hanteln oder Glücksschweine sein – auch Schatzztruhen und Goldminen können verschickt werden. Um sie verschicken zu können, muss das eigene Tiktok-Konto zunächst kostenpflichtig mit sogenannten Coins aufgeladen werden. Dabei entsprechen 30 Tiktok-Coins etwa 35 echten Euro-Cent, wenn man über den Webbrowser einkauft. Will man 34.900 Coins aufladen, werden 404,84 Euro fällig.
Virtuelle Rosen etwa kosten einen Tiktok-Coin, ein Panther 10, eine Geldpistole 500, ein Meer aus Blumen sogar 5000 – das wären dann umgerechnet immerhin schon 58 Euro. Das wertvollste Geschenk ist das Universum für 34.999 Coins, also 405,99 Euro. Ist das eigene Konto mit genügend Coins aufgeladen, ist das Verschicken ganz einfach.
An jedem verschickten Geschenk verdient sowohl der Streamer vor der Kamera als auch die Plattform Tiktok. Offizielle Zahlen dazu gibt es nicht – übereinstimmenden Medienberichten zufolge behält die Plattform aber etwa 50 Prozent der Einnahmen ein, der Rest geht an den Streamer oder die Streamerin.
Wichtige Einnahmequelle für Influencer
Dass sich Influencerinnen und Influencer durch Geldgeschenke von ihrem Publikum finanzieren, ist zunächst einmal nichts Neues. Möglich ist das auch auf Plattformen wie Youtube, aber auch auf ganz eigenen Unterstützungsportalen wie etwa Patreon oder Steady. Hier können Fans ihre Idole für ihre gute Arbeit oder ihre unterhaltsamen Inhalte belohnen.
Bei der zu Amazon gehörenden Streamingplattform Twitch lassen sich, ganz ähnlich wie bei Tiktok, ebenfalls Coins erwerben, die hier allerdings Twitch-Bits genannt werden. Diese können dann während eines Livestreams an den jeweiligen Streamer oder die Streamerin ausgegeben werden. So lassen sich die Bits etwa für das sogenannte „Cheeren“ verwenden. Dabei handelt es sich um besonders auffällige Nachrichten im Chat, die mit animierten Emojis hervorgehoben werden. 100 Bits kosten 1,47 Euro, 25.000 Bits rund 322 Euro.
Insbesondere für Streamerinnen und Streamer sind diese Geldgeschenke ein wichtiger Einnahmezweig. Die meisten verdienen ihr Geld vor allem durch Werbekooperationen, den Verkauf von Merchandise-Artikeln oder sogenannte Affiliate-Programme. Bei den Geldgeschenken kommt das Geld direkt aus der Community – nicht selten werden besonders großzügige Spender in den Streams auch namentlich genannt.
Stundenlanges Betteln um Geld
Auf der Plattform Tiktok allerdings wird die Spendenfunktion inzwischen völlig ad absurdum geführt. Durchs Netz geistern ganze Zusammenstellungen der bizarrsten Tiktok-Livestreams. Ein Influencer namens Momo etwa soll sich nach einem verlorenem Wettkampf auf eine Flasche setzen. Auch der Youtuber KuchenTV soll das tun. Seine Community wird im Wettkampf gegen den Youtuber KS-Freak minutenlang unter Druck gesetzt: „Weil eure Community kein Geld hat. Die sind bei Kuchen alle broke, darum macht er nix mit Flasche, weil er Angst hat“, ruft dieser.
In einem anderen Video ist zu sehen, wie der Youtuber seine Stirn gegen eine Schrankwand schlägt und einem verfeindeten Youtuber eine Liebeserklärung macht – auch das Ergebnis eines verlorenen Battles. Und ein Tiktoker namens Luke bettelt seine Community um virtuelle Geschenke an, weil er sich sonst seine Miete nicht mehr leisten könne, wie er sagt.
In einem Stream sitzt ein junger Mann namens Marius, der sich einen Rasierer an den Haaransatz hält und sein Publikum animiert, immer mehr Geld zu spenden. Angeblich, so der junge Mann, werde er sich die Haare abrasieren, wenn er von zehn auf null heruntergezählt hat. Das allerdings passiert gar nicht: Marius fängt einfach immer wieder neu an zu zählen. Vorbild dieser Strategie ist der Influencer Max Emre. Auch er hatte in einem Stream massig Geldgeschenke abgesahnt – die Frisur blieb am Ende aber trotzdem.
4000 Euro in 45 Minuten
Und manchmal sind die Livestreams so geschmacklos, dass selbst der fragwürdigste Bettelwettbewerb geradezu seriös wirkt: In gleich mehreren Livestreams etwa sitzen immer wieder Streamer im Splitscreen vor der Kamera – im Hintergrund auf der einen Seite eine ukrainische und auf der anderen Seite eine russische Flagge. Das Publikum soll dann mit Geldgeschenken entscheiden, welches Land das bessere sei.
Als einer der erfolgreichsten deutschen Livestreamer auf Tiktok gilt der Influencer Barello. Der 22-Jährige hat an guten Tagen bis zu 40.000 Livezuschauer in seinen Streams, wie das Hip-Hop-Magazin „Raptastisch“ berichtet. Sein aktueller Rekord liegt demnach bei über 500.000 Punkten in nur einem Live-Match. Pikant: Wie das Magazin berichtet, steht der Influencer mit dem Clan um Arafat Abou-Chaker in Verbindung.
Der Streamer Montana Black hatte es kürzlich geschafft, innerhalb von nur 45 Minuten geschätzt rund 4000 Euro über Tiktok-Geldgeschenke einzunehmen. Ein Zuschauer hatte dem Influencer sogar das sogenannte „Universum“ geschickt – für 405,99 Euro.
Spielend leicht Geld ausgeben
Das Spiel mit den Geldgeschenken im Stream ist heikel – nicht zuletzt deshalb, weil das Tiktok-Publikum sehr jung ist. Bei den 14- bis 25-Jährigen ist Tiktok die meistbenutzte App, noch vor Youtube und Instagram. Geldgeschenke senden dürften Minderjährige auf Tiktok zwar nicht – darauf weist die Plattform deutlich in seinen Allgemeinen Geschäftsbedingungen hin. Aber andersrum: Es hindert sie auch niemand daran.
Coins auf Tiktok lassen sich nicht nur mit Kreditkarte erwerben, sondern auch mit Paypal, Handyrechnung oder Klarna – damit lassen sich hohe Beträge sogar in Raten abbezahlen. Durch die vielen Umwege und das Verschicken von Rosen und Tieren dürfte es manch einem Nutzer kaum noch auffallen, dass er hier gerade echtes Geld ausgibt.
Ein Einfallstor in die Spielsucht
Kritikerinnen und Kritiker sehen in den Livestreamspielchen inzwischen eine handfeste Gefahr. Der Präventionscoach gegen Spielsucht Sascha Heilig beschreibt diese gegenüber dem Funk-Format „Brust raus“ als ein Einfallstor in die Spielsucht.
„Man gibt Geld für etwas aus und wartet darauf, dass etwas ganz Tolles passiert“, sagt Heilig. Das sei nichts anderes, als Geld in einen Spielautomaten zu werfen – mit dem Unterschied, dass der Spielautomat in diesem Fall ein Influencer sei, dem das Publikum im Zweifel vertraut.
Das kritisiert auch die Psychologin Jessica Kathmann gegenüber dem „Spiegel“. Die parasoziale Beziehung zum Influencer begünstige, dass der Wunsch entstehen könne, der anderen Person Geld zu schenken. Im Zuge der Übergabe erhalte man oft Aufmerksamkeit vom jeweiligen Influencer. Nach dem Motto: Die Person weiß jetzt, dass ich existiere.
Erste Behörden reagieren
Was Tiktok tut, um Jugendliche vor dieser Kostenfalle zu schützen, ist derweil völlig unklar. Eine Anfrage des RedaktionsNetzwerks Deutschland (RND) hat die Social-Media-Plattform nicht beantwortet. Genauso bedeckt halten sich die Protagonisten der fragwürdigen Streams: Sowohl der Influencer Leon Machère als auch sein Kollege Jounes Amiri ließen eine Anfrage unbeantwortet.
Aus vereinzelten EU-Ländern gibt es bereits erste Bestrebungen, etwas gegen den fragwürdigen Hype zu unternehmen. Die niederländische Regulierungsbehörde für Verbraucher und Märkte (ACM) hat die Plattform Tiktok aufgefordert, bei einer Spende durch Zuschauerinnen und Zuschauer nicht nur virtuelle Geschenke, sondern auch den echten Betrag in Euro anzuzeigen.
Die Behörde kündigte an, Tiktok genau überwachen zu wollen. Auch die europäische Verbraucherschutzorganisation BEUC kritisiert Tiktok für seinen Umgang mit virtuellen Geldgeschenken.