Mit den Augen eines Affen
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Das Bonobo-Weibchen Margrit lebte mehr als sechs Jahrzehnte im Frankfurter Zoo.
© Quelle: Matthias Besant
Am frühen Morgen klopfte sie so wie immer mit einem Fuß gegen den Breinapf, um ihr Futter einzufordern. Es gab Haferflocken in Apfelsaft gekocht, ihre Leibspeise. Doch sie schluckte nur noch einen statt zwei Löffel herunter.
Sie konnte kaum mehr kauen. Ihre Ohren waren runzlig, die Haare halb ausgefallen, eine Greisin mit wachen braunen Augen. So saß sie noch einen Vormittag auf ihrem beheizten Lieblingsstein vor dem durchsichtigen Glas. Um sie herum 18 schreiende Affen, vor ihr die Menschen, lächelnd, winkend, die Hände an die Scheibe gepresst. Ihr tägliches Leben im Frankfurter Zoo für mehr als ein halbes Jahrhundert.
Als sie sich am Nachmittag in die hinterste Ecke des Geheges legte, vor die Kunstfelswand, und ihre schwarzen Hände mit letzter Kraft um ein Seil spannte, wussten es auch die Pfleger: Margrit wartete auf den Tod. Hannah, 55 Jahre jünger, kam auf allen Vieren zu ihr gelaufen und streichelte ihr Fell. Es dauerte noch einige wenige Minuten, dann ging es friedlich zu Ende, nach mehr als 70 Jahren: das Leben des ältesten bekannten Menschenaffen der Welt.
62 Mitbewohner, sechs Zoodirektoren und eine Direktorin
Margrit sei eine Persönlichkeit gewesen, „freundlich, kooperativ und mit Schalk im Nacken“, sagte die Zoodirektorin kurz nach Magrits Tod. Sie bescheinigte ihr einmal einen „Gesichtsausdruck, als würde sie die Welt kennen“. Doch was für eine Welt lernt ein Affe kennen, wenn er fast sein gesamtes Leben im Zoo verbringt?
Margrit kam 1959 nach Frankfurt, als Adenauer aus Bonn regierte und die Eintracht zuletzt Deutscher Meister war. Sie erlebte fünf Direktoren und die erste Direktorin, teilte mit insgesamt 62 Affen das Gehege, gebar sieben Kinder.
Sie lebte lange in einem Gitterkäfig mit Kachelwänden und Klettergerüsten aus Stahl, später vor tropischer Urwaldkulisse inmitten deutscher Eichenstämme. Sie konnte mit dem Feuerzeug umgehen und an der Zigarette ziehen. Ihr Leben ist eine Zeitreise durch die Zoogeschichte – und ein Zeugnis darüber, wie wir Menschen mit unseren nächsten Verwandten umgegangen sind.
98,7 Prozent unseres Erbguts sind identisch, wir teilen denselben Millionen Jahre alten Urahn. Menschenaffen faszinieren uns, weil wir selbst Primaten sind. In ihnen erkennen wir uns wieder.
Trotzdem fragten wir uns erst spät: Was braucht ein Affe wie Margrit, um sich bei uns wohlzufühlen? Was für ein Leben ist ihr außerhalb der Gitterstäbe entgangen? Und je älter sie wurde, desto drängender wurde eine Frage: Mit welchem Recht gaben wir Menschen ihr dieses Leben?
Aus dem Affenparadies verschleppt
Margrits Herz begann mitten in Afrika zu schlagen, in den Regenwaldwipfeln des Kongobeckens. Eine Fläche fünfmal so groß wie Deutschland, mehr als 400 Säugetierarten leben hier, Waldelefanten, Okapis, auch der Kongopfau. Und Zwergschimpansen. So nannte man ihre Art früher, heute nennt man sie meist Bonobo. Sie sind etwas zierlicher und schlanker als der Gemeine Schimpanse, ihre Beine sind länger, die Gesichtszüge feiner, die Lippen rötlich. Unter den Menschenaffenarten – Gorillas, Orang-Utans, Schimpansen – sehen sie uns am ähnlichsten.
Das Gebiet südlich des schwer zu querenden Kongoflusses ist das einzige der Erde, in dem Bonobos leben. Im Urwald liegt der Duft von gegorenen Früchten in der Luft, die Baumstämme sind meterdick, im Wasser gibt es Flusskrebse zu fangen. Forscherinnen und Forscher sprechen von einem Affenparadies.
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In Afrika leben Bonobos im Regenwald des Kongobeckens.
© Quelle: picture alliance / WILDLIFE
1951, als Margrit geboren wurde, durchstreiften Wilderer den Regenwald mit Gewehren. Über Affenbabys freuten sich europäische Zoodirektoren besonders. Tierhändler schickten ihnen auf Kohlepapier vervielfältigte Listen: Schimpansen verkaufte man für 2000 bis 3000 Mark, ein Gorilla kostete fünfstellig.
Offiziell wurde Margrit aus dem Zoo von Kinshasa nach Frankfurt verschifft. Ein Pfleger, der sie vierzig Jahre lang begleitete, nennt sie wiederum eine echte „Seemannsbraut“. Gekauft auf einem Urwaldmarkt von einem deutschen Seefahrer, der sie für einige Jahre mit an Deck nahm und später dem Zoo anbot; zu einer Zeit, in der alle verrückt waren nach den seltenen Menschenaffen. Auch in anderen Quellen findet sich diese Version.
Eine „Seemannsbraut“ geht in den Zoo
Später beobachtete der Pfleger „absonderliche Verhaltensweisen“ an Margrit: Modekataloge drehte sie so herum, dass sie die Menschen darin richtig herum betrachten konnte. Sie konnte rauchen, aus der Pulle trinken, mit Spiegel und Kamm ihr Haar bürsten, sich gar mit Lippenstift schminken. Wo, wenn nicht auf den sieben Weltmeeren sollte sie das gelernt haben?
Am 18. November 1959 kam Margrit in den Zoo. Tiere stellte man damals häufig noch wie in einem Museum aus: als gebändigte wilde Bestien in engen Käfigen. Für 1,50 Mark Eintritt bot der Zoo seinen Besuchern das Exotische, Sonderbare und den Nervenkitzel, sich in der Nähe des Todes zu wähnen, wie es sein berühmter Direktor zu dieser Zeit, Bernhard Grzimek, einmal formulierte.
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Zoodirektor Bernhard Grzimek (2. von links) und Orang-Utan Sali mit Tierpfleger Klose begrüßen am 4. August 1967 im Frankfurter Zoo den millionsten Besucher des Jahres 1967.
© Quelle: picture-alliance/ dpa
Die Affen waren die Hauptattraktion, die „in ihrem Tun menschenähnlichsten und daher von den Besuchern am meisten beachteten Tiere“, hob die Frankfurter Stadtverwaltung 1960 hervor. Schimpansen ließ man zu dieser Zeit mit Lätzchen aus Teetässchen schlürfen, Gorillas schoben Puppenwägelchen umher. Die kostbaren Affenbabys wuchsen bei Grzimeks zu Hause oder mit dem Sohn des Revierpflegers im Laufstall auf.
Schon früh zeigte sich ein Muster: Der Mensch orientierte sich bei der Haltung der Affen nicht an ihren Bedürfnissen, sondern an seinen eigenen. Über ihre natürlichen Verhaltensweisen wusste man fast nichts. Den ersten Gorilla flog man 1929 im Zeppelin nach Frankfurt, im selben Jahr wurden Bonobos gar erst als eigenständige Art entdeckt.
Affen bekamen „zuweilen eine halbe oder ganze Zigarre“
So behandelten die Menschen ihre nächsten Verwandten eben wie Familienangehörige. Einem Gorilla, von Natur aus Vegetarier, tischte man mittags Hammelfleisch mit Kartoffeln auf – und dazu ein Glas Weißbier. Um ihre Verdauung zu fördern, hatte man den größeren Frankfurter Affen 1870 „zuweilen eine halbe oder ganze Zigarre“ gereicht. So steht es in einem Fachbuch. Von den 20 Menschenaffen, die der Zoologische Garten Frankfurt von seiner Gründung 1858 bis 1931 zeigte, starben dreizehn im ersten Jahr nach ihrer Ankunft.
Margrit kam als junger Affe zunächst in Einzelquarantäne, dort wirkte sie zuletzt „gehetzt und unausgeglichen“, wie die Zoologin Rosl Kirchshofer notierte. Unter Menschen groß geworden, sollte sie nun auf einmal unter Affen leben. Doch ihre Instinkte waren stark. Am 9. Dezember 1959 steckte man sie zu den anderen beiden Bonobos ins Frankfurter Gehege, zu Camillo und Camilla. „Kaum im Käfig, wurde sie von Camillo more hominum begattet“, schreibt Kirchshofer. More Hominum – von Angesicht zu Angesicht, so wie man es sonst nur bei Menschen kennt. Ihrem ersten Akt folgte sogleich der zweite: „Sie legte einen Arm um Camillo und zog ihn zu sich herunter. Auch diese Paarung verlief schweigend.“
Nach zwei Jahren wurde Margrit schwanger. Am 22. Januar 1962 brachte sie einen Sohn zur Welt, die erste Bonobo-Zoogeburt weltweit, eine kleine Sensation. Erstmals stand ihr Name in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ). Auf Fotos sieht man sie als junge Mutter: Das Haar dicht und glänzend, drückt sie den saugenden Pan an ihre Brust.
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1962 brachte Margrit als erster Bonobo im Zoo ein Junges zur Welt.
© Quelle: Zoo Frankfurt
Der Beginn einer Affendynastie
Es war zugleich der Beginn ihrer Affendynastie. Heute leben 84 Nachkommen von Margrit in 17 der 19 Zoos, die Bonobos halten. Es sind gerade einmal um die 200 Tiere. Bonobos gelten als stark gefährdet, in freier Wildbahn leben schätzungsweise noch 15.000 bis 20.000.
Ihre Zucht wurde für die Zoos immer wichtiger – auch weil sich Menschen in der Natur bald nicht mehr bedienen konnten, wie sie wollten. 1970 wurde im Kongobecken ein Gebiet so groß wie Baden-Württemberg zum Nationalpark erklärt. 1975 schränkte das Washingtoner Artenschutzabkommen den Handel mit Tieren stark ein. Einen Wildfang wie Margrit sollte es in Zoos nicht mehr geben.
In Frankfurt etablierte sie sich schnell als Oberhaupt einer Bonobogruppe, die brüllen konnte „in höchsten Tönen und Phonzahlen, allen voran und mit größter Anstrengung Mutter Margrit“, berichtete die „FAZ“ im Juli 1968. Ihre Pfleger sprechen von einer „niedrigen Stresstoleranz“. Einmal verschloss einer von ihnen die Gehegetür nicht richtig, sodass plötzlich acht Bonobos im Gang herumsprangen. Sieben Affen kooperierten und ließen sich in den Käfig geleiten, Margrit schnappte nach der Hand eines Pflegers. Einige Wochen zuvor hatte er sich ihrem im Gehege verunglückten Enkel genähert. Fortan fehlte ihm die Kuppe eines Mittelfingers.
„Auffällig war von Anfang an eine Art lesbisches Verhalten“
Dass Margrit die Gruppe derart resolut anführte, irritierte die Biologen damals: ein Weibchen als Boss? Und noch etwas erstaunte sie, die Zoologin Kirchshofer dokumentierte es bereits bei ihrem Einzug: Camilla, das andere Bonobo-Weibchen, „rieb ihre ebenfalls angeschwollene Vulva gegen die der Margrit, was diese widerstandlos geschehen ließ“. Sie notierte: „Auffällig war von Anfang an eine Art lesbisches Verhalten.“
1974 flog erstmals ein japanischer Wissenschaftler in den Regenwald, um Bonobos in einer Feldstudie zu beobachten. Er bestätigte Kirchshofers Eindruck: Sex dient bei ihnen nicht nur der Fortpflanzung, sondern der sozialen Hygiene, dem Abbau von Spannungen – quer durch alle Geschlechter. Bonobos leben gar in einem Matriarchat, die Weibchen bestimmen das Zusammenleben. Bald jubelten die Feministinnen der Zeitschrift „Emma“: „Ihre Botschaft ist bei uns angekommen.“ Bonobos galten nun als die „Hippieaffen“.
Auch die Popkultur vermenschlichte sie immer wieder. Menschenaffen wirkten vertraut, aber doch exotisch; das machte sie so unterhaltsam. Kinozuschauerinnen und -zuschauer gruselten sich 1933 vor „King Kong“, 1968 bekriegten sich Mensch und Schimpanse im Film „Planet der Affen“. Doch so populär sie auf der Leinwand waren, so armselig hielt man sie zu dieser Zeit in den Zoos.
Das modernste Affenhaus der Bundesrepublik
Margrit hockte fast 50 Jahre auf denselben Fliesen, auf nicht mehr als 50 Quadratmetern. Das 1933 erbaute Menschenaffenhaus bestand aus leicht zu reinigenden Gitterkäfigen mit Kachelwänden und Stahlrohrklettergerüsten. Die Affen sollten sich nicht mit Keimen infizieren. Zugleich sollte in den spartanischen Gehegen, die wie Badezimmer aussahen, nichts von den Tieren ablenken. 1960 bemängelte der Magistrat der Stadt, die Menschenaffen könnten sich nicht „ihren Lebensgewohnheiten entsprechend bewegen und austoben.“ In der Natur streifen Bonobos bis zu zwei Kilometer am Tag durch ihr Revier.
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Auf Bildern wirkt es steril und kalt, 1966 galt das Frankfurter Affenhaus als eines der modernsten der Bundesrepublik.
© Quelle: Zoo Frankfurt
Es kamen neue Außenanlagen hinzu, Felsen, Wassergräben. 1966 rühmte sich der Frankfurter Zoo nach einem Umbau mit dem „modernsten Affenhaus der Bundesrepublik“. Eine lichtdurchflutete Halle mit hellbraunen Marmorplatten. Doch nur die Schimpansen und Orang-Utans profitierten: „Hinter Stahlgittern schauen die hier untergebrachten Gorillas und Bonobos neidisch zu den hellen neuen Käfigen“, beobachtete die „FAZ“ bei der feierlichen Eröffnung. 30 Jahre später sagte der langjährige Leiter des Affenhauses zu seinem Abschied: „Die Gehege will und kann ich nicht schönreden, die sind klein und hässlich.“ Da entsprachen die Käfige der Bonobos schon nicht mehr den europäischen Mindestanforderungen für artgerechte Haltung; sie durften nur mit einer Sondererlaubnis hier weiterleben, weil der Zoo bereits einen Neubau angekündigt hatte.
Philosophen fordern Grundrechte für Affen
Die mangelhaften Zustände in vielen Zoos färbten auch auf die Besucherinnen und Besucher ab; sie empfanden bald nicht mehr Nervenkitzel in der Nähe exotischer Tiere, sondern Mitleid. Mitte der 1970er- und in den 1980er-Jahren etablierte sich um den Philosophen Peter Singer die Tierrechtsbewegung, die 1993 zur Gründung des Great Ape Project führte, einer Initiative, die Grundrechte für Menschenaffen fordert. Warum sollte nicht auch für sie gelten, was für uns Menschen selbstverständlich ist: das Recht auf Leben und individuelle Freiheit?
Ende der 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre kamen immer weniger Menschen in die Zoos; um zu überleben, mussten sie sich neu erfinden. Die Käfige der Tiere sollten fortan „naturnaher“ aussehen. 1994 klebte unter den Füßen der Frankfurter Bonobos erstmals Rindenmulch. Ein Bonobo-Weibchen hockte zwei Tage auf einem Brett an der Wand, weil sie sich nicht traute, den ungewohnten Belag zu betreten.
Das war zu einer Zeit, in der Margrits Leben nach natürlichen Maßstäben allmählich zu Ende gehen sollte. Andere Affen starben an Infekten, Margrit hatte nicht mal einen Schnupfen. Sie führte die Bonobos in Frankfurt immer noch mit harter Hand, zerbiss die Finger der Männchen bis auf die Knochen. Doch sie konnte auch fürsorglich sein: Nachts holte sie ihren Enkel Kelele zu sich ins Schlafnest, nachdem seine Mutter bei der Geburt verstorben war.
2008 war sie die erste, die auf allen vieren voran durch einen Tunnel in den Neubau des Affenhauses lief, in den „Borgori-Wald“. Bis zu 150 Quadratmeter messen die neuen Gehege, sie sind tropisch feucht temperiert, ausgestattet mit gefällten Eichen aus dem Frankfurter Stadtwald und einer Felskulisse aus Spritzbeton. Auf keinen Fall sollte es mehr so wirken, als wären die Tiere eingesperrt.
Im neuen Bonobo-Gehege haben die Tiere deutlich mehr Platz und Beschäftigungsmöglichkeiten.
© Quelle: Zoo Frankfurt
Morgens gibt es Vitamintabletten – und die Antibabypille
Der Zoo, der seine Affen früher dressierte, ihnen Steaks und Marmeladenbrote servierte, fütterte die Bonobos nun mit Gemüse, Roter Bete, Fenchelknollen, Karotten, Eiern, Molke. Sie bekamen Seile und Bälle, um sich zu beschäftigen. Die Pfleger und Pflegerinnen zogen sich immer mehr aus ihrem Leben zurück. Bald reichten sie ihnen nur die Breilöffel am Morgen, darauf Vitamintabletten und die Antibabypille. Auch im luxuriösen Gehege ist der Platz für neue Bonobos begrenzt.
Dass es den meisten Zooaffen heute besser geht, liegt auch daran, dass der Mensch sie in Gefangenschaft erforschen konnte. Ihre Gewohnheiten, ihre Gefühle. Ein Jahr vor Margrits Tod legten Wissenschaftlerinnen Handspiegel im Gehege aus. Würden sich die Affen selbst erkennen? Länger als alle anderen betrachtete eine alte Affendame mit geknittertem Gesicht ihr Spiegelbild. Hätte man Margrit einen Kamm gegeben, hätte sie sich die wenigen Härchen auf ihrem Kopf gerichtet?
Menschenaffen sind intelligent, sie können sich an besondere Ereignisse erinnern, das wissen wir heute. In den USA gibt es einen Bonobo namens Kanzi, der per Computertastatur kommunizieren soll.
Das lernte Margrit nicht mehr. Mit den Jahren wurde sie altersmilde. Im neuen Gehege verliebte sie sich in eine Palme, die sie stoisch bewachte, damit die anderen Affen nicht ihre Blätter abrupften. Nach der Pandemie spielte sie mit ihrem Urururenkel im Gehege.
Dann kam der 27. Januar 2023. Margrits letztes Klopfen an den Breitopf. Am Ende, als sie zum Sterben auf der nackten Erde lag, hat sie noch einmal gejapst, so berichten es Pfleger. Ein letzter tiefer Atemstoß, wie er auch manchen Menschen entfährt, wenn sie auf dem Totenbett liegen. Der älteste Bonobo in Deutschland ist nun Mato, 59, er lebt im Wuppertaler Zoo. Er ist Margrits Sohn.
Jeder will ein Stück von Margrit
Ihr zu Ehren gab der Frankfurter Zoo eine Pressemitteilung heraus. Ihr Tod mache traurig und hinterlasse eine Lücke, wird die Zoodirektorin darin zitiert. Einen Tag später veröffentlicht auch die Tierschutzorganisation Peta eine Mitteilung zu Margrit – sie fordert ein „Ende der Inhaftierung von Menschenaffen“.
Peta-Aktivisten veröffentlichen Videos von Affen aus dem Zoo, die scheinbar manisch hin und her wippen, sie verweisen auf Selbstverstümmelungen und kahle Stellen im Fell, das bei Bonobos in der Natur so dicht wirkt wie das von Plüschtieren.
Doch gäbe es Zootiere wie Margrit und ihre 84 Nachfahren nicht – wie lange gäbe es die Bonobos dann noch? Im Kongo holzen Menschen ihren Lebensraum illegal ab, Wilderer jagen sie und verkaufen ihr „Buschfleisch“. Die Zoos werben deshalb damit, dass sie die Art erhalten müssen; ein Zuchtbuch wacht darüber, dass sich die Gene der Affen genügend vermischen. Fast jeder zweite Bonobo in Gefangenschaft trägt mittlerweile Erbgut von Margrit in sich.
Am Ende von Margrits langem Leben hatte sich die Zeit sichtlich in ihr Gesicht gegraben.
© Quelle: Zoo Frankfurt
Trotzdem gibt es Menschen, für die Margrit nach ihrem Tod nun noch viel wertvoller geworden ist. Nachdem sie starb, meldeten sie sich aus der ganzen Welt. Die Zookuratorin nennt sie scherzhaft „Leichenfledderer“.
Noch liegt Margrits Leichnam in einem Kühlfach der Zoopathologie. Doch ihr Körper ist bereits aufgeteilt. Ihr Herz geht in eine Forschungsstation in die englischen East Midlands. Ihr Gehirn und der Kehlkopf nach Leipzig ins Max-Planck-Institut. Ihr Thorax ist versprochen, Blut wurde ihr in rauen Mengen abgezapft. Noch nie gab es einen älteren Affenkörper, den Primatenforscher sezieren konnten. Jeder will ein Stück Margrit haben. Es ist ihr letzter Dienst für uns Menschen.