Kommentare auf Tiktok, Instagram und Co.

Gewaltfantasien und Drohungen: Hetzjagd auf Tatverdächtige nach Tod von Luise

In der Naehe Nähe Fundortes der ermordeten Luise F. aus Freudenberg wurden Blumen abgelegt.

In der Naehe Nähe Fundortes der ermordeten Luise F. aus Freudenberg wurden Blumen abgelegt.

Eine 13-Jährige, teils geschminkt, stellt ihre Hobbys vor, tänzelt. Sechs Videos hat sie auf Tiktok hochgeladen, immer im Selfiemodus, immer cool. Die Kommentare passen nicht dazu. Hass, Gewaltfantasien, sogar Mordandrohungen finden sich darunter. Hundertfach.

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Nur wenige Stunden dauerte es, bis die beiden mutmaßlichen Mörderinnen von Luise aus Freudenberg identifiziert waren. Offenbar waren es Bekannte, ebenfalls Kinder, die auf die Profile der verdächtigen zwölf und 13 Jahre alten Mädchen aufmerksam machten. Sie teilten die Namen und Links auf Instagram und Tiktok, verlinkten sogar Medienanstalten, damit alle sehen können: Das sind sie.

Accounts sind offline, doch Screenshots überdauern

Inzwischen sind die Profile gesperrt, wie eine Tiktok-Sprecherin auf Anfrage des RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) sagte, habe man einem „behördlichen Gesuch“ sofort entsprochen und die betroffenen Accounts offline genommen. Auch der Landrat Siegen-Wittgensteins, Andreas Müller, bestätigte der „Siegener Zeitung“: „Wir haben die Löschung über die jeweiligen Plattformbetreiber veranlasst. Dort hat man schnell reagiert.“

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Doch verschwunden aus dem Internet sind sie damit nicht: Screenshots zirkulieren auf Twitter, Facebook, Tiktok und Co., Persönlichkeitsrechte scheinen keinen zu interessieren. Opfer und mutmaßliche Täterinnen sind identifiziert, die Namen machen die Runde, es gibt kein zurück.

Rachegelüste, Mordfantasien, Gewaltandrohungen: Hass für Tatverdächtige auf Social Media

Fassungslosigkeit und Fragen drücken die Menschen, die kommentieren, aus. Aber auch: Rachegelüste, Mordfantasien, Gewaltandrohungen, Selbstjustiz. Hunderte Kommentare fanden sich binnen weniger Stunden unter den sechs Videos der 13-Jährigen. „Das hat eine Dynamik angenommen, gerade weil es so ein emotionaler Fall ist“, sagt Josephine Ballon vom Projekt „Hate Aid“, das sich mit Hate Speech im Internet beschäftigt, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Die Mädchen sind den Gewalt- und Rachefantasien der Menschen ausgesetzt - angesichts dessen erinnert Ballon daran, dass die Menschenwürde in Deutschland für alle gelte, „auch für mutmaßliche Straftäterinnen.“

Die digitale Identität begleitet die Mädchen noch sehr lange. Sie werden immer wieder gefunden werden und mit dem Verbrechen in Verbindung gebracht, egal wie alt sie sind.

Josephine Ballon von „Hate Aid“

Während sich Nachrichtenmedien qua Pressekodex und Gesetzen daran halten müssen, die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen zu achten, wütet der Mob im Internet – und macht sich bisweilen sogar selbst strafbar. Die Ermittler hatten vor der Löschung der Social-Media-Konten nach eigenen Aussagen Datenkopien angefertigt, um gegen strafrechtliche relevante Kommentare vorzugehen.

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Offenbar sorgt vor allem die Tatsache, dass die beiden Verdächtigen aufgrund ihres Alters strafunmündig sind und es deshalb weder einen Gerichtsprozess noch eine Haftstrafe geben wird, für Unmut. Die gefühlte Ungerechtigkeit lässt Emotionen und Gefühle überkochen und den Wunsch nach Selbstjustiz wachsen. „Es spricht nichts dagegen, im Internet seine Bestürzung zu äußern“, sagt Ballon, „aber deshalb muss man zwei wohl ohnehin schon nicht normal gelaufene Menschenleben nicht öffentlich und deutschlandweit komplett zerstören.“

Zwölfjährige Luise von zwei Kindern erstochen

Die zwölfjährige Luise ist erstochen worden. Das hat die Obduktion ergeben. Als Täterinnen wurden zwei strafunmündige Mädchen ermittelt.

Polizei beobachtet Treiben in den sozialen Netzwerken

Die Polizei Siegen-Wittgenstein beobachte die sozialen Medien. „Wir haben ein Monitoring dazu und prüfen laufend, ob strafrechtlich Relevantes gepostet wird“, wird ein Sprecher von „Welt“ zitiert. Nebst dem Aufheben der Anonymisierung und den Drohungen gegenüber der Mädchen, seien auch Falschinformationen zu sehen. „Es gehen sehr, sehr zügig auch Falschinformationen durchs Internet – und vieles deckt sich einfach nicht mit unseren Ermittlungen“, sagte der Sprecher.

Schon am Mittwoch hatte der Bundesvorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK), Dirk Peglow, dem RND gesagt: „Die Verbreitung von persönlichen Daten oder Bildern mutmaßlicher Beschuldigter durch private Personen in Sozialen Medien stellt eine moderne Form der Hexenjagd dar.“ Diese führe in einem sehr frühen Stadium nicht nur für die betroffenen Beschuldigten, sondern auch für deren Angehörige zu erheblichem Leid. Das halte er für sehr gefährlich.

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Dynamik überrascht Social-Media-Expertin nicht

Vor allem auf Tiktok zeigte sich das Ausmaß. Erschreckend einfach waren die Mädchen über entsprechende Hashtags zu finden. Dass sich solch eine Dynamik entwickeln konnte, liegt offenbar auch am Algorithmus der Plattform. Wenn Beiträge häufig und von reichweitenstarken Accounts kommentiert und angeklickt werden, ist das für Tiktok ein Zeichen, dass es um ein relevantes Thema geht. Der Beitrag wird dann häufiger auch Menschen angezeigt, die der Person oder dem Hashtag nicht folgen. „Man sollte sich gut überlegen, ob man sich an diesem Kreislauf beteiligen möchte“, sagt Ballon, „das gilt für jedes Alter, aber besonders, wenn es um so junge Mädchen geht.“

Überrascht ist die Expertin allerdings nicht: Immerhin sei das Konzept sozialer Medien, dass dort stark diskutierte Beiträge vermehrt angezeigt werden, dass Menschen zuordenbar seien, alle mitdiskutieren könnten und jeder Sachen hochladen könne.

Die Vergangenheit wird die beiden Kinder immer wieder einholen

Dass die Profile der Mädchen erst in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag gesperrt oder gelöscht wurden, habe geschadet, glaubt Ballon und kritisiert, dass es keine Schutzmechanismen in solch einem Fall gibt. Lange waren die Profile abrufbar, was offenbar auch daran liegt, dass die Plattformen selbst Accounts nur löschen können, wenn sie massiv gegen die Richtlinien verstoßen, wie Instagram dem RND mitteilte. Auch Tiktok wartete mit der Deaktivierung auf behördliche Anweisungen.

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„Wäre es früher unterbunden worden, wäre es vielleicht ein lokales Phänomen geblieben und sie wären nicht in der ganzen Republik bekannt“, sagt sie. Sprich: Die Mädchen wären dann lokal durchaus identifizierbar gewesen, aber eben nicht deutschlandweit. „Die digitale Identität begleitet die Mädchen noch sehr lange. Sie werden immer wieder gefunden werden und mit dem Verbrechen in Verbindung gebracht, egal wie alt sie sind“, sagt Ballon.

Nach Tod von Luise: „Keine Tat rechtfertigt, was in den sozialen Medien passiert“

Die Familien der Mädchen haben ihren Wohnort bereits verlassen, meldet die „Siegener Zeitung“. Eine Rückkehr sei quasi nicht denkbar, aber auch ein Neustart an anderen Orten in Deutschland dürfte schwierig werden – die Vergangenheit dürfte die mutmaßlichen Täterinnen einholen. Möglichkeiten, die Identität zu wechseln, und beispielsweise wie einer der Entführer von Gladbeck in Anonymität neu zu starten, sind möglich, laut dem Landrat Müller aber „aktuell nicht vorgesehen“, wie er der „Siegener Zeitung“ sagte.

„Natürlich ist die Tötung schrecklich“, sagt Ballon – aber sie mahnt: „Die Tat rechtfertigt nicht, was in den sozialen Medien passiert.“ Deutschland sei ein Rechtsstaat, „und diese Regelung gibt es nicht umsonst.“ Experten hätten in den vergangenen Jahren Methoden erarbeitet, wie in solch sehr seltenen Fällen mit den Verdächtigen umzugehen sei. Aktuell sind die beiden Mädchen in Heimen untergebracht und besuchen ihre gewohnte Schule nicht. Kontakt zu ihren Eltern haben die Kinder allerdings.

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