Kritik unter Freunden: Es nicht versucht zu haben wäre der schlechteste Weg
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Benjamin Netanjahu, Premierminister von Israel.
© Quelle: Andrew Medichini/AP
Deutschland wird auf ewig Verantwortung dafür tragen, dass die Erinnerung an die Ermordung von sechs Millionen Juden im Nationalsozialismus und die Lehren aus der Schoah aufrechterhalten und das Existenzrecht Israels verteidigt werden. Es ist das, was als deutsche Staatsräson ins kollektive deutsche Bewusstsein eingegangen ist. Nichts davon ist verhandelbar. Es wirkt auch bald 78 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg immer noch wie ein Wunder, dass Juden Deutschland jemals wieder die Hand gereicht haben. Die Freundschaft zwischen den beiden Staaten ist ein unschätzbares Gut.
Aber wer diese ungewöhnliche und unvergleichliche Partnerschaft im Jahr 2023 ernst nimmt, muss das tun, was echte Freunde auf Augenhöhe ausmacht: Offen aussprechen, was beim anderen gerade schiefläuft. Unabhängig von der Geschichte, im deutschen Fall unabhängig von der historischen eigenen Schuld.
Nichts Geringeres als die Demokratie ist in Gefahr
In Israel ist unter der rechtsreligiösen Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu nichts Geringeres als die Demokratie in Gefahr. Bundeskanzler Olaf Scholz muss das in seinem Gespräch mit ihm an diesem Donnerstag in Berlin offen und öffentlich ansprechen. Die von israelischen Künstlern geforderte Absage des Besuches ist keine Alternative. Schweigen tut nicht gut, erst recht nicht in Krisen. Der Austausch – vor allem unter Partnern und Freunden – solange noch etwas zu ändern ist, kann helfen, im besten Fall wie ein Korrektiv wirken. Es nicht versucht zu haben wäre jedenfalls der schlechteste Weg.
Der Bundeskanzler muss sich in Bezug auf den ganzen Konflikt in Nahost aber besser wappnen, als er es beim Besuch von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas im August getan hatte. Damals hat er nicht gleich geschaltet, als Abbas während der gemeinsamen Pressekonferenz im Kanzleramt Israel einen vielfachen Holocaust an den Palästinensern vorwarf. Der Holocaust ist mit nichts vergleichbar. Scholz hatte große Mühe, im Nachhinein Abbas’ Relativierung des millionenfachen deutschen Mordes an den Juden als völlig unakzeptabel und auf deutschem Boden völlig unentschuldbar zu kritisieren.
Israels Vertrauen in Deutschland hat das nicht erschüttert, aber es gab Irritationen. Jetzt muss Scholz den protestierenden Bürgerinnen und Bürgern in dem Land das Signal senden, dass er an ihrer Seite steht und die Umtriebe der rechtsreligiösen Regierung von Netanjahu kritisiert. Deren geplante Justizreform verdient es nicht, Reform genannt zu werden. Sie bricht mit demokratischen Grundsätzen. Eine Amtsenthebung des Regierungschefs würde erheblich erschwert. Nicht das Korruptionsverfahren gegen Netanjahu wäre dann ein Grund, sondern lediglich noch gesundheitliche Gründe. Und Entscheidungen des Obersten Gerichts könnten mit einfacher Mehrheit des Parlaments aufgehoben werden. Das ist nicht demokratisch, sondern autokratisch.
Bundesaußenministerin Baerbock kritisiert Israels Pläne zu Justizreform und Todesstrafe
Der israelische Außenminister Eli Cohen hat Deutschland zu einem entschlossen Vorgehen gegen die Machthaber im Iran und deren Atomprogramm aufgerufen.
© Quelle: Reuters
Grundlage gemeinsamer Werte muss erhalten bleiben
Und durch den Ausbau des jüdischen Siedlungsbaus wird noch etwas zerstört, worauf Deutschland lange gesetzt hat: Eine Zweistaatenlösung mit den Palästinensern. Abgesehen von der Diskriminierung der Palästinenser wird das die Region weiter destabilisieren.
Zur deutschen Staatsräson gehört, für das Existenzrecht Israels einzutreten. Allein die Bedrohung durch den Iran gilt es auch von Berlin mit aller Kraft zu begrenzen. Aber Israel muss dafür sorgen, dass die Grundlage gemeinsamer demokratischer Werte erhalten bleibt. Ein Ministerpräsident, der selbstherrlich trotz staatlich geprüfter Verfehlungen im Amt bleiben kann – und sich dafür erpressbar von der eigenen Koalition macht –, gehört nicht dazu. Das darf man – das muss man – unter Freunden sagen können.