Am Ende der Wahlverwandtschaften
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Der umstrittene grüne Wirtschaftsstaatssekretär Patrick Graichen (links) muss abtreten. Zuletzt hatte Wirtschaftsminister Robert Habeck (rechts) noch an Graichen festgehalten.
© Quelle: IMAGO/photothek
Liebe Leserin, lieber Leser,
politisch und journalistisch waren wir im Regierungsviertel auf eine ruhige Woche eingestellt. Während der Kanzler von Island bis Japan durch die Welt tourt, in Berlin: sitzungsfrei, Feiertag, Brückentag. Also rechneten wir daheim allenfalls mit einer Debatte zum Vatertag, nachdem der Muttertag in diesem Jahr schon für so schön viel Aufregung gesorgt hatte. Doch dann knallte am Mittwoch in unsere Morgenkonferenz die Nachricht vom Abgang des Klimastaatssekretärs Patrick Graichen.
Den Einschlag einer solchen Nachricht bei uns können Sie sich vorstellen wie die Ankunft des Fuchses im Hühnerstall. Wir sind dann erst einmal ziemlich aufgescheucht. Anders als die Hühner sortieren wir uns aber schnell wieder, verifizieren die Nachricht, schreiben eine erste Meldung, dann liefern wir Hintergründe, Reaktionen und einen Kommentar. Während wir in den vergangenen Wochen in der Redaktion oft kontrovers über die Frage diskutiert haben, ob Graichen zurücktreten muss, war das am Mittwoch kein Thema mehr. Nach dem nächsten Regelverstoß bei der Vergabe von Posten und Finanzmitteln war die Entlassung des Staatssekretärs unausweichlich. Aus meiner Sicht hätte Habeck diese Konsequenz direkt ziehen müssen. Er hätte sich in dem Moment von Graichen trennen müssen, in dem ihm zu Ohren gekommen war, dass Graichen zum Gremium gehörte, das seinen Trauzeugen zum Chef der Energieagentur Dena machen wollte.
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„In der Gesamtschau hat sich Patrik Graichen zu angreifbar gemacht, sein Amt noch wirkungsvoll ausüben zu können“, sagte Wirtschaftsminister Robert Habeck am Mittwochvormittag in seinem Ministerium, als er den Abgang des Staatssekretärs verkündete.
© Quelle: Christophe Gateau/dpa
Formal ist das ein Verstoß gegen die Compliance-Regeln des Ministeriums und wahrscheinlich auch gegen das Beamtenrecht. Vielleicht können ein Minister und ein Staatssekretär in Zeiten, in denen ihr Ressort öffentlich wenig wahrgenommen wird, so eine Affäre gemeinsam überstehen. In Zeiten aber, in denen eine Energiekrise noch nicht ausgestanden ist und ein Gesetz zum Heizungstausch die Republik in Wallung bringt, muss jeder Politprofi wissen, dass das nicht gut ausgehen kann. Ja, in Teilen war die Kampagne gegen Habeck und seinen Staatssekretär unfair. In den sozialen Medien war und läuft sie teilweise sogar unterirdisch, boshaft und zersetzend. Der Kern des Problems aber ist hausgemacht und die daraus folgende Krise wurde vom Minister selbst schlecht gemanagt. Wie so oft stand zwischen einem politischen Fehler und dem Verlust des Postens eine salamitaktische Kette aus zurückweisen, einräumen, korrigieren und relativieren.
Mehrere Angriffspunkte bei Graichen
Der Fall Graichen ist vielschichtig. Da gibt es den Staatssekretär, den der Minister rühmt, im Winter für die Energiesicherheit und damit für warme Wohnzimmer im Land gesorgt zu haben. Derselbe Mann wird von seinen Gegnern als klimapolitische Dampfwalze beschrieben. Dass er mit einem weiteren Staatssekretär im Ministerium verschwägert ist, muss erlaubt sein. Dass auch seine Geschwister ihr Geld mit Klimaschutz verdienen, macht die Lage komplizierter – zumal das Geld teilweise aus dem Wirtschaftsministerium an die Arbeitgeber von Bruder und Schwester gehen. Das ließe sich mit Aufwand und Transparenz regeln. Graichen ist dem aber nicht ausreichend nachgekommen. Auch ohne den Hauptgrund für seine Entlassung – die Auswahl seines Trauzeugen für einen Topjob – bietet eine solche Konstellation Angriffsfläche.
„Der eine Fehler zu viel“: Habecks Staatssekretär Graichen verlässt Bundeswirtschaftsministerium
Bundeswirtschaftsminister Habeck verwies am Mittwoch auf neue Ungereimtheiten in Bezug auf seinen Energiestaatssekretär.
© Quelle: Reuters
Und noch ein Problem: Wenn man sich nur mit Menschen umgibt, die ticken wie man selbst, hat man für die eigene Arbeit natürlich viel Rückhalt und kann auf maximale Loyalität bauen. Das birgt viele Vorteile. Allerdings fehlt dann auch die Person, die die Dinge mal gegen den Strich bürstet und einen so vor Fehlern bewahrt. Das ist übrigens nicht nur in Habecks Ministerium der Fall.
Habeck geht aus dem Fall Graichen angeschlagen hervor. Die Rücktrittsforderungen gegen ihn sind aber haltlos. Seine gröbsten Fehler waren das Krisenmanagement und die späten Konsequenzen. Substanziell hat er sich nichts zuschulden kommen lassen. Ob und wann er sich davon erholt, ist offen – es hängt vor allem davon ab, ob es ihm gelingt, in der Energiewende wieder Boden gutzumachen.
Für die Regierung Scholz ist der Abgang Graichens der dritte prominente Verlust nach den Rücktritten von Familienministerin Anne Spiegel (Grüne) und Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD). Dabei hat die Ampel noch nicht einmal Halbzeit.
Klare Ansage
Ein wesentlicher Beitrag zu den internationalen Bemühungen, Russland für die Folgen seines brutalen Handelns zur Rechenschaft zu ziehen.
Olaf Scholz,
Bundeskanzler
Der von der EU unabhängige Europarat, der aus 46 Staaten besteht, hat sich am Mittwoch in Reykjavik darauf geeinigt, ein Schadensregister zu schaffen, das die Zerstörungen in der von Russland angegriffenen Ukraine dokumentiert. Das Register gilt als erster Schritt auf dem Weg zu möglichen Entschädigungszahlungen an die Ukraine.
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Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) beim Europaratsgipfel in Island
© Quelle: Kay Nietfeld/dpa
Wie Demoskopen auf die Lage schauen
SPD und Grüne verlieren weiter an Rückhalt in der Bevölkerung. In dieser Woche rutschte die SPD um einen weiteren Prozentpunkt auf nur noch 17. Auch die Grünen gaben einen weiteren Prozentpunkt nach und liegen nun nur noch bei 15 Prozent. Das Urteil von Forsa-Chef Manfred Güllner: „Die Grünen verfehlen nicht nur ihr angestrebtes Ziel, sich zu einer Partei für breitere Wählerkreise zu entwickeln, sondern sie verlieren auch wieder all jene mit dem einst geschätzten Führungsduo Baerbock und Habeck gewonnenen neuen Anhänger.“ Die FDP, die sich öffentlich als Korrektiv in der Ampel zur rot-grünen Linie positioniert, konnte sich wiederum von 7 auf 8 Prozentpunkte verbessern. Rund ein Viertel der Wahlberechtigten geben an, dass sie entweder Nichtwählerinnen und -wähler sind oder schlicht nicht wissen, wo sie ihr Kreuz machen sollen.
Die Sonntagsfrage im Überblick:
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© Quelle: Forsa
Das ist auch noch lesenswert
Packend zu lesen und kenntnisreich schreibt unser Reporter Jan Sternberg über den am Mittwoch gestarteten Prozess gegen die terroristisch agierende Gruppe Vereinte Patrioten, die Gesundheitsminister Karl Lauterbach entführen wollte. Kostprobe: „In ihrem ebenso krude wie gefährlich klingenden Plan sollen sie vorgehabt haben, durch Attacken gegen Strommasten einen wochenlangen Blackout herbeizuführen, Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach zu kidnappen und dadurch ,bürgerkriegsähnliche Zustände‘ herbeizuführen, in einer Fernsehansprache durch ein Double von Bundeskanzler Olaf Scholz oder Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Bundesrepublik für aufgelöst zu erklären und durch eine „konstituierende Versammlung“ auf Basis der Reichsverfassung von 1871 zu ersetzen.“ Die ganze Geschichte lesen Sie hier. (+)
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Die Gruppe Vereinte Patrioten wollte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach entführen und Chaos in der Bundesrepublik anrichten.
© Quelle: Oliver Berg/dpa
Die Pläne der Verschwörer sind bekanntlich kläglich gescheitert. Wie gut unser politisches Spitzenpersonal bewacht wird, hat Felix Huesmann recherchiert. „Karl Lauterbach gehört mittlerweile zu den am besten geschützten Menschen in Deutschland“, schreibt er.
Nach dem Abgang von Klimastaatssekretär Patrick Graichen will die FDP nun alle Gesetze überprüfen lassen, die Graichen auf den Weg gebracht hat. Das ist nicht gerade die feine Art in einer Koalition. Unser Wirtschaftschef Andreas Niesmann erzählt die ganze Geschichte mit allen Hintergründen.
Der Wahlkrimi in der Türkei ist noch nicht vorbei. Präsident Erdogan und sein Herausforderer Kilicdaroglu müssen sich am 28. Mai einer Stichwahl stellen. Die meisten Beobachterinnen und Beobachter rechnen mit einem Sieg des Amtsinhabers. Unser Krisenreporter und Türkeikenner Can Merey wird für die Stichwahl erneut dorthin reisen. Dass er sich einen Sieg der Opposition wünscht, daraus macht Can kein Geheimnis. Die Bedingungen vor der Wahl seien – wie üblich in der Türkei – hochgradig unfair gewesen, schreibt mein Kollege. (+)
Das Autorenteam dieses Newsletters meldet sich am Samstag wieder. Dann berichtet meine Kollegin Kristina Dunz. Bis dahin!
Herzlichst
Ihre Eva Quadbeck
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