Atom-Aus lässt Grüne heute nicht strahlen
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Wasserdampf steigt aus dem Kühltum des Kernkraftwerks Isar 2.
© Quelle: Armin Weigel/dpa
Liebe Leserin, lieber Leser,
ohne Atomkraft hätte es die Grünen vielleicht nie gegeben. So wechselhaft ihre Parteigeschichte gewesen ist – eines blieb immer gleich: ihr Kampf gegen die Kernenergie. Nach 43 Jahren sind sie nun am Ziel. Ab heute ist Wirklichkeit, wofür sie mit ihrem Schlachtruf „Atomkraft? Nein danke“ lange als Spinner abgetan wurden: An diesem 15. April 2023 werden die drei letzten Meiler abgeschaltet. In Deutschland wird kein Atomstrom mehr produziert. Nur wird den Grünen die Freude über ihren Erfolg mächtig verhagelt.
Erst waren sie mit ihrer Atompolitik der Zeit weit voraus, nun fallen sie mit ihrem Ja zur verstärkten Kohlenutzung zurück. Nichts sollte die zum Schluss wieder nur mühselig verteidigte Abschaltung der letzten Reaktoren gefährden. Jede Kilowattstunde zählt, hatte Wirtschaftsminister Robert Habeck gesagt. Nur nicht durch Atomstrom. Der machte nach Daten des Statistischen Bundesamts zuletzt aber ohnehin nur noch einen Anteil von 6 Prozent der Bruttostromerzeugung in Deutschland aus.
Irgendwie wirkt es allerdings schon wieder so, als seien die Grünen zur falschen Zeit am falschen Ort. Gäbe es den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht, hätte keine Energiekrise gedroht und der Atomausstieg schon 2022 besiegelt werden können. Die Grünen hätten die Sektkorken knallen lassen können. Hätte. Hätte.
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Der damalige Spitzenkandidat der Grünen für die Bundestagswahl Jürgen Trittin (l.), die damalige Parteivorsitzende Claudia Roth (rechts) und Sängerin Nina Hagen (Mitte) nehmen an einer Anti-Atomkraft-Demo im Jahr 2009 teil.
© Quelle: picture alliance / ASSOCIATED PRESS
Ein kurzer geschichtlicher Abriss
In vier Jahrzehnten ist die Partei von Petra Kelly, Jutta Ditfurth, Joschka Fischer, Habeck und vielen anderen Prominenten jedoch ziemlich schmerzfrei geworden. 1980 gründeten sich die Grünen in Karlsruhe als Umwelt- und Anti-Atomkraft-Bewegung, 1983 zogen sie in den Bundestag ein, 1998 in die Bundesregierung. 2002 beschloss Rot-Grün den Atomausstieg (das „Gesetz zur geordneten Beendigung der Kernenergienutzung zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität“ bis 2022). 2010 verlängerte die schwarz-gelbe Regierung die Nutzung der Atomkraft aber wieder bis mindestens 2035, um 2011 nach dem GAU in Japan die Laufzeiten doch bis 2022 zu begrenzen.
Die damalige Grünen-Fraktionsvorsitzende Renate Künast sagte nach der Abstimmung im Bundestag: „Ich bin heute stolz, auch ein bisschen gerührt, was eine Bewegung, die diskriminiert, auch kriminalisiert wurde, alles geschafft hat.“ Harmlos war da noch der Kalauer in den 1980er-Jahren: „Atomkraft? Nein danke. Der Strom kommt aus der Steckdose.“
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Die ehemalige Grünen-Fraktionsvorsitzende Renate Künast.
© Quelle: Grüne
Im Laufe der Jahre schlossen sich aber große Teile der Bevölkerung der Grünen-Argumentation zu den Risiken der Atomenergie und der ungelösten Endlagerfrage an, es kam zu bundesweiten Demonstrationen gegen die Regierung von Angela Merkel. Sogar ein gewisser CSU-Politiker Markus Söder schwang sich als einstiger Umweltminister Bayerns zum obersten Atomkraftgegner auf, um jetzt als Ministerpräsident den Ausstieg wieder zu geißeln.
Die deutschen Atomkraftwerke seien doch die sichersten der Welt, heißt es hier und da. Dabei hat es schon seit Jahren keine ganz große Wartung mehr gegeben, die man sich sparte, weil der Ausstieg absehbar war. Deutschland werde noch Atomstrom aus Frankreich beziehen müssen, wenn es knapp werde, lautet eine andere Argumentation. Im vorigen Jahr war es allerdings umgekehrt. Deutschland lieferte Frankreich Strom, das im erneuten – durch den Klimawandel bedingten – Hitzesommer nicht ausreichend Kühlwasser für seine Meiler hatte.
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Blick auf den zerstörten Reaktor von Tschernobyl: Bei einer am 25. April 1986 durchgeführten Simulation eines Stromausfalls kam es zu einem unkontrollierten Leistungsanstieg des Kernreaktors, der am 26. April um 1.23 Uhr schließlich zur Explosion führte.
© Quelle: dpa
Am 26. April jährt sich die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl zum 37. Mal. Ich weiß noch, wie wir damals mit einiger Skepsis nach draußen gingen, obwohl der Reaktor 1500 Kilometer entfernt explodiert war. Je nach Windrichtung könnten wir etwas von der radioaktiven Kontamination abbekommen, hieß es. Es gab in jenen Tagen aber weder Wind noch Regen in der Gegend.
Wir waren froh, dass der eigene nahegelegene Meiler schon lange stillgelegt war – und dachten noch, dass der begonnene Neubau vielleicht nicht mehr verwirklicht werde. Doch, wurde er. Ein Kühlwasserbecken wurde gebaut, in dem die Menschen zum Baden gingen, ein Wanderweg um den künstlichen See angelegt. Naherholung am niedersächsischen Atomkraftwerk Emsland.
Heute wird es vom Netz genommen. Wie Isar 2 in Bayern und Neckarwestheim 2 in Baden-Württemberg. Und der Strom wird tatsächlich weiter aus der Steckdose kommen.
Machtpoker
Klotzen, klotzen, klotzen.
Markus Söder,
bayerischer Ministerpräsident in der Sendung „Frühstart“ von N-TV und RTL
Immer wieder schön, wie Markus Söder pokern kann. Bayern sei auf dem Weg, das führende Bundesland für Windkraft an Land zu werden. Man traut seinen Ohren nicht. Denn Bayern hat die Entwicklung der vergangenen Jahre schwer verschlafen. Allein in den ersten drei Monaten dieses Jahres wurden im Freistaat nur fünf neue Windräder in Betrieb genommen. In anderen Binnenländern wie Nordrhein-Westfalen und Brandenburg waren es 14 und 17. Söder sagt nun, es gelte bei erneuerbaren Energien und damit auch bei der Windkraft das Prinzip Klotzen. Er gehe davon aus, dass Bayern bis Ende des Jahrzehnts seine Flächenziele für die Windkraft schaffen und sogar übertreffen werde. Hört, hört. Gekleckert hat er nach eigener Ansicht bisher vielleicht genug. Früher hat er Bäume umarmt, jetzt Windräder. In Bayern kommt es immer darauf an, woher der Wind weht.
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Markus Söder (CSU), Ministerpräsident von Bayern, bei einem Besuch des Kernkraftwerks Isar 2.
© Quelle: Peter Kneffel/dpa
Wie unsere Leserinnen und Leser auf die Lage schauen
An dieser Stelle geben wir Ihnen das Wort:
Lothar Cromberg aus Hannover zum Kommentar über den Atomausstieg:
„Die letzten drei Atommeiler werden abgeschaltet, aber zwei Drittel der Deutschen möchten an der Kernkraft festhalten. Dabei sprechen alle Fakten für den endgültigen Ausstieg. Sie geben in Ihrem Leitartikel dankenswerterweise Aufklärung. Ergänzend möchte ich noch den weitverbreiteten Mythos widerlegen, Frankreich müsste uns nach dem Abschalten unserer Atomkraftwerke Strom aus seinen Atomkraftwerken liefern. Im Sommer 2022 kaufte Frankreich enorme Mengen Strom aus Deutschland ein, weil zahlreiche Atomkraftwerke repariert oder gedrosselt werden mussten wegen ausgetrockneter Flüsse und mangelnder Kühlung. Aber die Angst vor Stromengpässen ist trotzdem berechtigt, nur aus einem ganz anderen Grund: Der Hype zur Elektromobilität und nicht zuletzt E-Wärmepumpen wird die Bundesnetzagentur noch vor große Probleme stellen. Auch hier werden Fakten anscheinend ignoriert.“
Ernst-Michael Hasse zum selben Thema:
„Sie blenden einige Fakten aus: Deutschland geht mit seinem Atomausstieg weltweit einen Sonderweg, kein anderes Land folgt dem deutschen Weg. Im Gegenteil. Rundherum werden neue Kernkraftwerke gebaut. Diesen Ländern zu unterstellen, sie könnten nicht „rechnen“, ist schon sehr gewagt. Deutschland hat sich aus ideologischen Gründen verrannt. Es ist genau andersherum: Erneuerbare sind nicht grundlastfähig. Wo soll bei Dunkelflauten, wie wir sie für zehn Tage im Januar hatten, der Strom herkommen? Also müssen Kohlekraftwerke hochgefahren werden oder wir kaufen Atomstrom aus Frankreich! Unglaubwürdiger kann man nicht handeln!“
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Das französische Atomkraftwerk Cattenom nahe der deutschen Grenze spiegelt sich im Wasser des nahegelegenen Sees. Im vergangenen Jahr wurden mehrere Risse an Rohrleitungen entdeckt.
© Quelle: epa Karaba/EPA_FILE/dpa
Hanna Schwarz zur Unterstützung der Opfer der Flutkatastrophe im Ahrtal 2021:
„Kanzler, Landesmutter regional – alle haben gesagt, dass unbürokratisch (!!!), sofort geholfen wird! Genau das Gegenteil wird gemacht! Kein Wunder, dass Bürger nur noch wütend sind!“
Eckhard Martens, Wedemark-Negenborn zum Kommentar zu Pistorius’ Bundeswehrumbau:
„Endlich ein Realpolitiker, der mit Taten statt mit Worten glänzt und das heiße Eisen Strukturverschlankung beherzt angeht. Hoffen wir mal, dass Herr Pistorius hier als Vorbild für einen überfälligen Rundumschlag dient. Auch der immer noch zu große Bundestag muss weiter verkleinert werden. Schließlich kann ein Abgeordneter heute mit Internet, Telefon und komfortablen Verkehrswegen wesentlich besser Kontakt zu seinem Wahlkreis halten, als das in den Anfängen der Bundesrepublik der Fall war. Am einfachsten wäre es, jeweils zwei Wahlkreise zu einem zusammenzulegen. Das würde nicht nur eine Halbierung der Abgeordneten und ihrer Bezüge bedeuten, sondern auch eine erhebliche Kosteneinsparung insbesondere der Büros und der Mitarbeiter im nachgelagerten Bereich. Es liegt an uns Bürgern, hier Druck aufzubauen und unsere Politiker anzutreiben, aus ihrer Blase herauszukommen und Gesetze sowie Verordnungen zu vereinfachen. Los geht’s!“
Georg Streubel zum Kommentar „Die Hoffnung stirbt zuletzt“:
„Sie haben die Dinge nach meiner Auffassung seitenverkehrt interpretiert. Wie wäre es, Sie würden die Verantwortlichen für dieses gesellschaftspolitische Desaster namentlich benennen, die für die deutlich zunehmenden Schieflagen in der politischen Verantwortung stehen? Eine Regierung, die nur mit sich selbst beschäftigt ist, royale Auftritte in Serie, wortleere Sprachblasen produziert und die Menschen des Landes von einer Verlegenheit in die andere stürzt. Ein Kanzler, der sich in einer bemerkenswerten Sprachlosigkeit und in einer absurden Didaktik vor das Volk stellt und in diesem Kontext die eigenwilligsten Worthülsen produziert.“
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Bundestagspräsidentin Bärbel Bas hatte sich während ihrer Corona-Infektion mit einem Tiktok-Video in der Öffentlichkeit gemeldet. Nach den Klängen von Rolf Zuckowskis Kinderlied „Ich schaff das schon“ wippte sie im Playback mit dem Kopf hin und her. Reaktionen fielen hart aus: Ein solch infantiler Kram sei für das zweithöchste Staatsamt nicht würdig. Bas entschuldigte sich. Eine harmlose Angelegenheit im Vergleich zu dem, was mein Kollege Felix Huesmann über die weltweit populäre Social-Media-Plattform recherchiert hat (+). Zwischen oft unterhaltsamen Kurzvideos suchen sich auch Neonazis ihren Platz. Selbst rechtsextreme Mörder werden dort glorifiziert. Bitte lesen.
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Auf Tiktok tummeln sich nicht nur Neonazis – dort werden auch rechtsextreme Terroristen glorifiziert.
© Quelle: picture alliance / ZUMAPRESS.com | Taidgh Barron / Montage: RND
Zu Risiken und Nebenwirkungen von Gesundheitspolitik empfehle ich Ihnen keine Packungsbeilage, sondern die Texte von unserem Fachkorrespondenten Tim Szent-Ivanyi. In dieser Woche hat er wieder exklusiv über die Cannabislegalisierungspläne der Regierung berichtet und ein Interview mit Kassenärztechef Andreas Gassen geführt. Dieser plädiert etwa für eine Gebühr, wenn man direkt in eine Notaufnahme geht, ohne vorher die 112 zur Ersteinschätzung anzurufen. Das Interview hält noch mehr interessante Ideen parat (+).
Unsere Frankreich-Korrespondentin Birgit Holzer beobachtet den französischen Präsidenten Emmanuel Macron schon lange. Ausrutscher wie die Bezeichnung seiner Landsleute als „widerspenstige Gallier“ oder seine Beschreibung der Nato als „hirntot“ belebt ihre Arbeit in Paris. Über seine USA-Distanz nach seiner China-Reise ist sie aber entsetzt. Unerträglich überheblich, sagt sie. Aber lesen Sie selbst.
Das Autorenteam dieses Newsletters meldet sich am Dienstag wieder. Dann berichtet mein Kollege Markus Decker. Bis dahin!
Herzlich
Ihre Kristina Dunz
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