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Das kleine Island zeigt Putin Europas Stärke

Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, wurde beim Gipfel des Europarates per Video zugeschaltet.

Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, wurde beim Gipfel des Europarates per Video zugeschaltet.

Liebe Leserin, lieber Leser,

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haben Sie gewusst, was der Europarat eigentlich genau macht? Diese Institution in Straßburg, die völlig unabhängig von Europäischer Union und EU-Parlament ist, 46 Mitgliedsstaaten hat – darunter die 27 EU-Staaten, die Türkei, die Ukraine, Aserbaidschan und Großbritannien und viele Länder mehr – und zu der der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gehört?

Ich musste mir jedenfalls vor meiner Reise mit Bundeskanzler Olaf Scholz zum Gipfel der Staats- und Regierungschefs des Europarates in Reykjavik erst einmal die bisherigen Gipfel­erklärungen raussuchen. Ich konnte mich nicht erinnern, wann der Europarat das letzte Mal groß in Erscheinung getreten war. Die Recherche war leicht: Denn in der 74-jährigen Geschichte des Gremiums gab es bis zu dieser Woche erst drei Gipfel, der letzte war 2005.

Zu lange hat sich der Europarat in einer Nische eingerichtet. Wenn man aber seine Stimme für Menschen­rechte, Rechts­staatlichkeit und Frieden erheben will, muss man sich auch Gehör verschaffen. So wie es das kleine Island nun getan hat.

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Minister­präsidentin Katrin Jakobsdóttir nutzte den turnusgemäßen Vorsitz des Europarates dafür, wegen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine die Chefebene des Gremiums zusammen­zu­trommeln. Auf die Vulkaninsel mit ihren 387.000 Einwohnern kamen sie alle: fast 60 Delegationen, darunter die USA, Kanada, Japan, Mexiko und der Vatikan.

Katrin Jakobsdóttir (rechts) ist die Minister­präsidentin von Island und die Initiatorin des Europarats­gipfels 2023. Hier zusammen mit Bundes­kanzler Olaf Scholz.

Katrin Jakobsdóttir (rechts) ist die Minister­präsidentin von Island und die Initiatorin des Europarats­gipfels 2023. Hier zusammen mit Bundes­kanzler Olaf Scholz.

Reykjavik präsentierte sich überaus freundlich und professionell. Mitarbeiter in Hotels sprachen von Stolz, dass ihr kleines Land so einen riesigen Gipfel organisiert. Wann stehe die Insel schon im Fokus der Welt? Außer in der Pferdewelt mit ihren berühmten Ponys, die diesen wunderbaren Tölt haben, dass die Reiter und Reiterinnen das Gefühl haben, in einem Sessel zu fliegen.

Die Innenstadt war wie üblich bei solchen Gipfeln abgesperrt, aber viele nutzten das für Spaziergänge oder Rollerfahren auf der Straße, kleine Läden hatten geöffnet, Kneipen waren voll. Kellner und Verkäuferinnen fragten auf Englisch nach der Nationalität von Gästen und was sie genau von Island hielten. Ich stellte mir diese weltoffenen begeisterten jungen Leute vor, wenn sie das erste Mal in das raue Berlin kämen und der Busfahrer sie anschnauzte, weil sie in dem vollen Fahrzeug vielleicht zu nah an der Tür stehen, die dann nicht zugeht: „Könnse mal die Tür frei machen, sonst fahr ick nich los, wa?“

Apropos Bus. Damit auch die mitreisenden Medien rechtzeitig zum Gipfel kommen, muss ihr Fahrzeug eigentlich in der Kolonne des Kanzlers fahren. Uns hatte man da aber nicht eingeplant. Der erste Termin mit Scholz drohte ohne uns zu verstreichen, was für die Bericht­erstattung ja bedauerlich gewesen wäre. Doch unseren Fahrer hatte der Ehrgeiz gepackt. Er fuhr wirklich wie der Teufel. Geschwindigkeits­begrenzung? Nicht mit ihm. Rote Ampel? Egal. Stau? Hupen hilft. Wir stiegen mit leichtem Schwindel aus, aber wir waren rechtzeitig da.

In Gipfel­kreisen wurde erzählt, dass die isländischen Polizisten sonst nie bewaffnet seien, es gebe ein paar Streifenwagen, in denen eine Pistole im Handschuh­fach verschlossen sei. Um die Politelite zu schützen, seien sie mit Maschinen­gewehren ausgestattet worden.

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Europarat will Putin und Russland zur Rechenschaft ziehen
dpatopbilder - 16.05.2023, Island, Reykjavik: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD, M) kommt beim Gipfel des Europarates zum Familienfoto. Erst zum vierten Mal in der über 70-jährigen Geschichte des Europarats treffen sich die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer. Auf der Tagesordnung stehen unter anderem die Unterstützung für die Ukraine und die Wahrung der Menschenrechte in den Mitgliedsländern. Der Europarat ist von der EU unabhängig und will mit seinen 46 Mitgliedsstaaten für die Einhaltung der Menschenrechte sorgen. Foto: Kay Nietfeld/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Die Staaten des Europarats wollen Russland wegen des Angriffs auf die Ukraine zur Rechenschaft ziehen.

Wichtige Zusagen an die Ukraine

Von Island gehen mit dem Gipfel nun drei wichtige Botschaften aus. Erstens: Der russische Präsident Wladimir Putin wird noch stärker isoliert, seine Kriegsverbrechen und die Zerstörung in der Ukraine werden jetzt systematisch in einem Schadens­register erfasst. Russland und damit auch seine Bevölkerung werden einen hohen Preis zahlen.

Zweitens: Auch die europäischen Staaten, allen voran die reichen unter ihnen wie Deutschland, werden für den Wiederaufbau der Ukraine in „Marshallplan-Dimension“ zahlen, wie es der Bundeskanzler sagt. Und drittens: Je mehr Putin den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und dessen Land vernichten will, desto inniger nimmt Europa Kiew in seine Mitte.

Und Selenskyj tritt immer selbstbewusster und fordernder auf. Nach seiner Tour durch europäische Hauptstädte ist er am Freitag zum Gipfel der Arabischen Liga im saudi-arabischen Dschidda geflogen, wo Syriens Machthaber und Russland-Freund Baschar al-Assad erstmals seit 2011 wieder willkommen geheißen wurde. Dessen jahrelanger Bürgerkrieg, der Tod von 500.000 Landsleuten und die Flucht mehrerer Millionen Syrerinnen und Syrer hinderten die Liga nicht daran, den Diktator wieder in ihren Kreis aufzunehmen. Danach stand für Selenskyj nichts Geringeres als der G7-Gipfel in Japan auf dem Plan.

Wir zeigen, was die Macht der freien Welt bedeutet.

Wolodymyr Selenskyj,

Präsident der Ukraine

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Nach Island wurde Selenskyj per Video zugeschaltet. „Russland bemüht sich sehr, seine Fähigkeit zu töten zu verbessern. Wir bemühen uns sehr, den Schutz unserer Bevölkerung zu verbessern“, sagte er. In seinem Bemühen um eine „Kampfjet-Allianz“, der Deutschland bisher nicht angeschlossen hat, bat er auch hier, die Luftverteidigung der Ukraine stärker zu unterstützen. „Wir zeigen“, sagte er, „was die Macht der freien Welt bedeutet.“

Regierende wollen solidarisch sein, wenn zu ihnen der Präsident eines Landes kommt, das nicht der EU angehört, und deren demokratische Werte verteidigen will. Bis zum Tod. Sie stehen dann nicht da und sagen: „Kämpft mal schön, wir schauen zu.“ Deshalb ist eins nicht mehr vorstellbar: dass die Länder, die mit Waffen unterstützen, die Ukraine untergehen lassen. Denn danach wäre auch ihre Werte verloren.

Scholz hat in Reykjavik überraschend noch einen anderen Ton angeschlagen. Er hat Wenn und Aber davorgesetzt, aber ausgesprochen, dass der russische Krieg gegen die Ukraine irgendwann enden wird. Bis dahin müssten „Brücken“ aufrecht­erhalten werden zu den demokratischen Kräften in Russland. Brücken nach Russland – das ist auch Hoffnung auf Frieden mit Russland. Und es ist zu hoffen, dass auch Brücken für Friedens­verhandlungen gebaut werden. Natürlich kann nur die Ukraine darüber entscheiden. Aber auch dabei könnte sie Unterstützung gebrauchen.

Scholz’ Mantra ist, die Ukraine werde so lange unterstützt wie nötig. Das ist auch eine Einstimmung der eigenen Bevölkerung auf die Nachkriegszeit: Freiheit kostet. Das wird noch zu Diskussionen führen. Aber wenn es nur Geld und nicht das Leben ist, ist es der richtige Weg.

 

Machtpoker

Russische Diamanten sind nicht für immer.

Charles Michel,

EU-Ratspräsident, am Rande des G7-Gipfels in Japan

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Bis Sonntag wollen die G7-Staaten bei ihrem Gipfel in Hiroshima weitere Sanktionsmaßnahmen auf den Weg bringen. Nun soll der Export von Rohdiamanten aus Russland – weltweit größter Produzent – eingeschränkt werden. Manch einer kennt den James-Bond-Film „Diamantenfieber“, in dem Shirley Bassey Anfang der 70er-Jahre die Titelmelodie „Diamonds Are Forever“ sang. Auch EU-Ratspräsident Charles Michel. Er fügte nun das kleine Wörtchen „nicht“ hinzu. Russische Diamanten sind nicht für die Ewigkeit. Jedenfalls nichts für Zeiten des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Man stellt sich vielmehr die Frage, warum der teure Schmuck bisher noch nicht auf der Sanktionsliste stand.

Charles Michel, Präsident des Europäischen Rates, beim G7-Gipfel.

Charles Michel, Präsident des Europäischen Rates, beim G7-Gipfel.

 

Wie unsere Leserinnen und Leser auf die Lage schauen

An dieser Stelle geben wir Ihnen das Wort:

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Helmut Schulz aus Kürten zum Kommentar über die Flüchtlings­politik der Bundesregierung:

„Seit der Entstehung des Grundgesetzes und des darin verankerten Rechts auf Asyl hat sich die Weltbevölkerung mehr als verdreifacht. In der EU ist die Bevölkerung gleich geblieben. Wir leben in einer Zeit mit zunehmenden gewalttätigen Konflikten, einem Angriffskrieg in Europa und der weltweiten Ausweitung totalitärer Regime. Die Länder, aus denen Menschen bei uns Schutz und Aufnahme suchen, haben mehr als drei Milliarden Einwohner. In der EU ist Deutschland zusammen mit Luxemburg in einer Minderheits­position, alle anderen in der EU neigen zu einer strikten Kontrolle und damit einer Vermeidung illegaler Zuwanderung.

Mit den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte wissen wir, dass Prüfung der Asylgründe nur mit wahrhaftiger, aktiver Mitwirkung der Antragsteller möglich ist, eine Rückführung nach Ablehnung überwiegend nicht erfolgreich ist und aus den faktischen Möglichkeiten der Umsetzung bewilligter Aufnahmen sich eine Belastungs­grenze ergibt. Die Konsequenz dieser Erfahrungen wären, wie von vielen gefordert, stärker befestigte und kontrollierte Außengrenzen. Ich nenne es notwendige Maßnahme, um die Stabilität unserer Demokratien in der EU zu erhalten. Ein Verteilungs­schlüssel in der EU wird nicht funktionieren, da die in der EU aufgenommenen Menschen wegen der besseren Sozial­leistungen dann zeitverzögert nach Deutschland kommen.

Zur Sicherstellung einer Versorgung werden häufig sogenannte Geber­konferenzen einberufen, auf Initiative der UN oder engagierter Länder. Mein Eindruck ist, dass autokratisch geführte Staaten (etwa China, Russland, Saudi-Arabien) bei Hilfsleistungen im Rahmen der Welt­gemeinschaft Zurückhaltung üben und diese Aufgabe gern den westlichen Demokratien zuschieben/überlassen und ihr Geld für die Ausweitung ihrer Machtinteressen einsetzen. Es ist Zeit, die Realitäten anzuerkennen und die Bewältigung der Flucht­bewegungen auf die UN-Ebene zu heben.“

 

Das ist auch noch lesenswert

Japan richtet den G7-Gipfel in Hiroshima aus. Jeder Mensch weiß, dass diese Stadt auf ewig mit der Zerstörung durch die Atombombe verbunden sein wird. Mein Kollege Felix Lill war dort und berichtet, warum Hiroshima ausgerechnet um den Ruf als Friedens­stadt bangen muss (+). Ich lege Ihnen diese Geschichte mit Weisheiten des 78-jährigen Kenichi Harada dringend ans Herz.

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Vertreter der trauernden Familien der durch den Atombomben­abwurf getöteten Opfer läuten die Friedens­glocke im Hiroshima Peace Memorial Park während der Friedens­gedenk­zeremonie zum 70. Jahrestag des Atombomben­abwurfs auf die Stadt (Archivbild).

Vertreter der trauernden Familien der durch den Atombomben­abwurf getöteten Opfer läuten die Friedens­glocke im Hiroshima Peace Memorial Park während der Friedens­gedenk­zeremonie zum 70. Jahrestag des Atombomben­abwurfs auf die Stadt (Archivbild).

Wird die Luft wirklich besser, wenn alle elektrisch fahren? Gute Frage – und gute Antworten von meinem Kollegen Andreas Kötter. Zum Beispiel, dass die Herstellung der von allen E-Autos benötigten Batterien sehr hohe Mengen an CO₂ und anderen Schadstoffen erzeugt. Nur E-Autos sind offensichtlich auch noch keine Lösung.

Warum die Wieder­aufnahme Syrien in die Arabische Liga ein Debakel ist, kommentiert Daniela Vates scharf und eindrücklich. Es ist zum Verzweifeln, dass ein Diktator, der sein eigenes Volk massakriert und Millionen in die Flucht treibt, politisch bestens überlebt.

Das Autorenteam dieses Newsletters meldet sich am Dienstag wieder. Dann berichtet mein Kollege Markus Decker. Bis dahin!

Herzlich

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Ihre Kristina Dunz

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