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Flüchtlingsgipfel im Kanzleramt, oder: Pokergesichter bei der Arbeit

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) äußert sich bei der Pressekonferenz nach dem Bund-Länder-Gipfel im Bundeskanzleramt.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) äußert sich bei der Pressekonferenz nach dem Bund-Länder-Gipfel im Bundeskanzleramt.

Liebe Leserin, lieber Leser,

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am Ende bleibt vom Flüchtlingsgipfel dieses kleine fotografische Stillleben. Es zeigt Kanzler Olaf Scholz und Niedersachsens Ministerpräsidenten Stephan Weil – beide Mitglieder der SPD und ohne Jackett – zu vorgerückter Stunde gemeinsam mit dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Hendrik Wüst sowie dem Leiter seiner Staatskanzlei, Nathanael Liminski. Die beiden Christdemokraten stehen ebenfalls, haben ihre Jacketts aber noch an.

Besonders bemerkenswert ist der Mann links unten am Bildrand: Wolfgang Schmidt, Chef des Bundeskanzleramtes und seit Jahren Scholz‘ rechte Hand. Er hockt im Schneidersitz auf dem Boden, einen Laptop auf den Knien, und arbeitet offenkundig die Änderungen in die Abschlusserklärung ein, die die anderen vier Herren ihm diktieren.

Wenn es stimmt, dass Bilder sprechen können: Dieses Bild gehört dazu.

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Dem Treffen der 16 Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten mit dem Kanzler war ja ein erheblicher Schlachtenlärm vorausgegangen. Die Länder wollten mehr Geld für die Kommunen. Schließlich müssten sie die Lasten bei Unterbringung und Versorgung der knapp 1,3 Millionen Menschen tragen, die im vergangenen Jahr aus der Ukraine und anderen Staaten nach Deutschland flohen und es weiter tun. Das von Schmidt geleitete Kanzleramt und das Bundesfinanzministerium unter Christian Lindner (FDP) rechneten vor, warum für diese Aufgabe im Grunde Länder und Kommunen zuständig seien und sie noch dazu längst viel Geld aus Berlin bekämen.

NRW-Ministerpräsident Wüst: „Jetzt ist der Bundeskanzler gefragt“
10.05.2023, Berlin: Hendrik Wüst (CDU, l), Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, nimmt neben Stephan Weil (SPD), Ministerpräsident von Niedersachsen, an einer Pressekonferenz nach der Vorbesprechung der Ministerpräsidenten teil. In den Beratungen soll über die Kosten von Geflüchteten in den Bundesländern beraten werden. Foto: Michael Kappeler/dpa-pool/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

„Der Bund hat kein ausreichendes Problembewusstsein gezeigt in den letzten Wochen. Auch die Vorbereitung der heutigen Zusammenkunft belegt das leider.“

„Der Kanzler muss das Thema jetzt zur Chefsache machen, Verantwortung übernehmen und Führung zeigen“, mahnte Wüst unmittelbar vor dem Termin. Weil, der Scholz menschlich sehr fernsteht, dachte wohl ähnlich, konnte es aber als Parteifreund nicht so offen sagen. Angesichts der verhärteten Fronten schien eine lange Nachtsitzung denkbar – so wie beim letzten Koalitionsausschuss, der immerhin 30 Stunden dauerte.

Doch es kam anders – womöglich auch, weil es unter den Regierungschefs einige Herren in vorgerücktem Alter gibt, die zeitig ins Bett wollen und wie Weil der Meinung sind, dass bei Nachtsitzungen „noch nie etwas Vernünftiges herausgekommen ist“.

Zwar ließ einer der Teilnehmer zwischendurch verlauten, die Verhandlungen seien „festgefahren“. Doch bald darauf wurde bereits das Abendessen serviert (Bouletten!), während eine kleine Delegation weiterverhandelte und der Kanzleramtschef schließlich das Abschlusspapier zur Kenntnisnahme und Zustimmung verteilte. Unterdessen hieß es, zum ersten Mal hätten auch Fahrer und Personenschützer etwas zu essen bekommen. „Premiere.“

Ich hätte heute Morgen, anders als der Bundeskanzler, nicht darauf gewettet, dass wir so auseinandergehen.

Stephan Weil,

Ministerpräsident Niedersachsens

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Die Pressekonferenz sieben Stunden nach Gesprächsbeginn war inhaltlich eher nicht so interessant. Bekanntlich kriegen die Kommunen eine Milliarde Euro zusätzlich; andere Fragen wurden vertagt. Umso interessanter war zu sehen, wie mit Weil und Wüst zwei Herren auf dem Podium saßen, die den Dritten im Bunde, also Scholz, nicht leiden können, und er sie wohl ebenso wenig. Man sah drei Pokergesichter bei der Arbeit.

Stephan Weil (SPD, von links nach rechts), Ministerpräsident von Niedersachsen und amtierender Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK), Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Hendrik Wüst (CDU), Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, bei der Pressekonferenz nach dem Bund-Länder-Gipfel im Bundeskanzleramt.

Stephan Weil (SPD, von links nach rechts), Ministerpräsident von Niedersachsen und amtierender Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK), Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Hendrik Wüst (CDU), Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, bei der Pressekonferenz nach dem Bund-Länder-Gipfel im Bundeskanzleramt.

Der Kanzler behauptete, man habe „nett miteinander beraten“. Wenn man ihn vorher gefragt hätte, wie die Sache ausgeht, dann hätte er gesagt: „So!“ Scholz hat mithin alles vorher gewusst – wieder einmal. Da mussten die Ministerpräsidenten schmunzeln. Weil erwiderte: „Ich hätte heute Morgen, anders als der Bundeskanzler, nicht darauf gewettet, dass wir so auseinandergehen.“ Zudem glaube er nicht, „dass die Diskussion im Vorfeld als stilbildend empfunden wird“.

Nach einer halben Stunde sah man drei lachende Männer das Podium verlassen. Die Pokergesichter waren plötzlich verrutscht. Sie lachten allem Anschein nach darüber, wie absurd bisweilen die Politik ist. Und zumindest Weil und Wüst lachten vielleicht auch über etwas, worüber der Kanzler aus Prinzip nie lacht: sich selbst.

 

Bittere Wahrheit

Bovi-Power für Bremen

Wahl-Werbung der Bremer SPD für Bürgermeister Andreas Bovenschulte

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Bei allem Respekt: Bremens Bürgermeister Andreas Bovenschulte war bundespolitisch bisher keine große Nummer. Das hat auch mit der Bescheidenheit des Mannes und der von ihm regierten Stadt zu tun. In Bremen selbst ist das anders. Dort finden 70 Prozent der Leute den 57-Jährigen gut. Nichts lag daher näher als SPD-Wahlplakate wie „Bovi-Power für Bremen“. Erfolgreich waren sie ebenfalls. Bovenschulte und die SPD haben die Wahl gewonnen.

Im Lateinischen gibt es zwar den Spruch: „Quod licet Iovi, non licet bovi.“ Zu Deutsch: „Was dem Jupiter erlaubt ist, ist dem Ochsen nicht erlaubt.“ Aber abgesehen davon, dass Andreas Bovenschulte kein Ochse ist: An der Weser darf er jetzt erst mal fast alles.

Andreas Bovenschulte, Spitzenkandidat der SPD in Bremen, ist in Bremen beliebt.

Andreas Bovenschulte, Spitzenkandidat der SPD in Bremen, ist in Bremen beliebt.

 

Wie das Ausland auf die Lage schaut

Zu den deutsch-ukrainischen Beziehungen hieß es im Schweizer „Tages-Anzeiger“ vor dem Besuch des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in Deutschland:

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„Betrachtet man nicht nur die militärische, sondern die gesamte Unterstützung, ist Deutschland hinter den USA mittlerweile der zweitwichtigste Partner der Ukraine, noch vor Großbritannien. Besonders ins Gewicht fällt dabei die humanitäre Hilfe.

Deutschland hat Polen kürzlich laut EU-Statistik als das Land abgelöst, in dem am meisten Menschen leben, die aus der Ukraine geflüchtet sind: fast eine Million nämlich. Dies erfordert nicht nur die Solidarität vieler privater Helferinnen und Helfer, sondern auch Milliardenausgaben und enorme Anstrengungen von Gemeinden und Bund.“

Zum Gedenken an den Sieg über den Nationalsozialismus und das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa vor 78 Jahren schreibt die konservative Zeitung „Lidove noviny“ aus Tschechien:

„Heute ist es wichtig, die Ukraine zu unterstützen. Das ist in Ordnung. Doch wir sollten deswegen nicht die Geschichte des Jahres 1945 umschreiben. Genauso falsch wäre es, dem Gefühl zu erliegen, Russland aus ewigem Dank für die Befreiung vom Nationalsozialismus im Mai 1945 in allem, was es tut, unterstützen zu müssen.“

 

Das ist auch noch lesenswert

Mein Kollege Can Merey hält sich derzeit in der Türkei auf, um über die Präsidentschaftswahl zu berichten. Dabei hat er die alte Nachbarschaft des bisherigen und wohl auch künftigen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan erkundet. Lesenswert! Erdogan und die Türkei-Wahl: Früherer Nachbar über den türkischen Präsidenten (+)

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Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat gute Chancen, sich in der Stichwahl durchzusetzen.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat gute Chancen, sich in der Stichwahl durchzusetzen.

Meine Kollegin Eva Quadbeck hat sich den Ausgang der Präsidentschaftswahl genauer angesehen. Sie befürchtet, dass Erdogan die Stichwahl gewinnt und es dann leider nicht besser wird in der Türkei. Wahlen in der Türkei: Erdogans Freund-Feind-Denken mit fatalen Folgen (+)

Die Bremerinnen und Bremer haben ebenfalls gewählt. Das Ergebnis: Die SPD liegt mit Bürgermeister Andreas Bovenschulte wieder auf Platz eins. Meine Kollegin Kristina Dunz und ich haben aufgeschrieben, wie es dazu kam und was daraus womöglich folgt: Bremer SPD kann sich Koalitionspartner aussuchen.

Meine Kollegin Kristina Dunz hat außerdem ihre Meinung zu einer möglichen Kampfjetlieferung an die Ukraine dargelegt. Ihr Fazit: Es ist kompliziert. Selenskyj in Deutschland: Die heikle Frage nach den Kampfjets

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Das Autorenteam dieses Newsletters meldet sich am Donnerstag wieder. Dann berichtet meine Kollegin Eva Quadbeck. Bis dahin!

Herzlich

Ihr Markus Decker

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