Schweigen wäre Gold gewesen
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Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, sitzt in einem Auto während eines Besuchs auf einem Militärflugplatz.
© Quelle: Yves Herman/Pool Reuters/AP/dpa
Liebe Leserin, lieber Leser,
als Bundeskanzler Olaf Scholz im vorigen Jahr nach Kiew fuhr, wurden Medien zwar vorher eingeweiht, aber es wurde Vertraulichkeit vereinbart. Im Austausch zwischen Politik und Journalismus wird da bis drei gezählt.
„Unter 1″ heißt: Quelle, Datum und Ort werden veröffentlicht. „Unter 2″ bedeutet: Man darf darüber berichten, aber nicht sagen, wer genau der Informant ist – zu seinem Schutz. Wichtig ist nur, DASS etwas bekannt wird. In solchen Fällen lesen Sie, dass etwas aus Parteikreisen, aus dem Kanzleramt oder aus dem Umfeld von jemandem verlautete.
Und dann gibt es noch „Unter 3″. Darüber darf überhaupt – noch – nicht in der Öffentlichkeit geschrieben oder gesprochen werden. Zu heikel, zu gefährlich für die Betroffenen. Aber Redaktionen sollen es wissen, damit sie sich vorbereiten können.
Wir wussten also mit einem gewissen Vorlauf, dass Scholz und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der damalige italienische Ministerpräsident Mario Draghi und Rumäniens Staatschef Klaus Johannis am 16. Juni 2022 gemeinsam den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in Kiew treffen werden, aber wir schwiegen wie vereinbart.
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Olaf Scholz mit Regierungssprecher Steffen Hebestreit und weiteren engen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Zug auf dem Weg von Polen nach Kiew.
© Quelle: Jesco Denzel/Bundesregierung/dpa
Es war auch deshalb ein wichtiger Besuch, weil zwischen Scholz und Selenskyj wochenlang das Zerwürfnis über den geplatzten Visite von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in der Hauptstadt der von Russland überfallenen Ukraine lag. Steinmeier war kurzfristig ausgeladen worden. In der Ukraine kreideten sie ihm noch seine russlandfreundliche Politik der Vergangenheit an. Scholz ließ Kiew daraufhin auf seinen Besuch warten. Auch aus Solidarität mit Steinmeier.
Aber es war vor allem auch eine gefährliche Reise, über die möglichst lange vor Beginn nichts bekannt werden sollte. Immerhin können ausländische Gäste aus dem Westen nur mit der Bahn aus Polen nach Kiew kommen. Der Flugverkehr ist eingestellt. Auch, wenn die Zugfahrt nur nachts geschieht, ist ein Beschuss nicht ausgeschlossen. Wer weiß denn, zu welcher Eskalation der russische Präsident Wladimir Putin bereit ist, wenngleich kaum vorstellbar ist, dass er westliche Regierungschefs beschießen lässt.
Die Vertraulichkeit hat bis kurz vor Abreise gehalten. Dann sickerte in einigen Medien in Deutschland und Europa durch, was in etwa geplant ist. Als SPD-Chef Lars Klingbeil und SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich im März in Kiew waren, galt die sogenannte Sperrfrist für die Berichterstattung bis zur Ankunft. Sie wurde eingehalten.
Ganz anders nun umgekehrt. Eine deutsche Zeitung berichtete vor einigen Tagen, dass Selenskyj am 13. und 14. Mai nach Deutschland kommen werde. Das erste Mal seit dem Überfall von Russland auf die Ukraine am 24. Februar 2022. Zuletzt war er im Juli 2021 in Deutschland zum Antrittsbesuch bei der damaligen Kanzlerin Angela Merkel (CDU).
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Wolodymyr Selenskyi und die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel
© Quelle: Stefanie Loos/AFP POOL/dpa
Der 45-Jährige bekommt den Aachener Karlspreis. Dieser wird seit 1950 an Persönlichkeiten verliehen, die sich um die Einheit Europas verdient gemacht haben. Unklar war bislang, ob Selenskyj ihn persönlich entgegennimmt. Er ist Russlands Staatsfeind Nummer eins und damit in Lebensgefahr, wo er steht und geht.
Aber völlig überraschend bestätigte die Polizei den geplanten Besuch. Zehn Tage vorher. Auslandsreisen von Selenskyj werden aus Sicherheitsgründen möglichst bis zur letzten Minute geheim gehalten. So wie sein Besuch in der finnischen Hauptstadt Helsinki am Mittwoch.
Je nach Kriegsverlauf kann ohnehin kurzfristig alles über den Haufen geworfen werden. Derzeit plant die Ukraine obendrein eine Offensive zur Rückeroberung der von Russland besetzten Gebiete. Kiew soll einigermaßen fassungslos über die deutsche Bekanntgabe der Reise sein. Dabei sollte das nächste Treffen von Scholz und Selenskyj unnötige Spannungen im deutsch-ukrainischen Verhältnis überwinden und nicht neue schaffen.
Selenskyj fordert Sondertribunal für russischen Angriffskrieg
In Den Haag hat der ukrainische Präsident Selenskyj gefordert, Moskau für seine „Verbrechen der Aggression“ zur Verantwortung zu ziehen.
© Quelle: Reuters
Die Berliner Polizei hat übrigens Ermittlungen wegen des Verdachts auf Geheimnisverrat aufgenommen. Die Kommunikation gelang aber auch darüber nicht. Polizeipräsidentin Barbara Slowik teilte mit, die Polizei habe offiziell „zu keiner Zeit Auskünfte erteilt, welche den Staatsbesuch gefährdet“ hätten. „Lediglich auf Anfragen aufgrund der vorangegangenen medialen Berichterstattung wurde seitens der Pressestelle der Polizei Berlin der bevorstehende Einsatz bestätigt.“ Der Staatsbesuch ist aber doch genau dadurch gefährdet. Denn nun erscheint unsicher, ob er überhaupt noch stattfindet.
Politsprech
So wie es jetzt aussieht, sind wir auf einem Weg, dass wir dieses Jahr endlich die Summe von 100 Milliarden US-Dollar erreichen können.
Annalena Baerbock,
Außenministerin
Die Industrieländer hatten 2009 in Kopenhagen versprochen, bis 2020 jährlich 100 Milliarden US-Dollar aus öffentlichen und privaten Quellen für Klimaschutz in Entwicklungsländern zu mobilisieren. Gelungen ist das bislang nicht. In ihrer Existenz durch den Klimawandel bedrohte Länder haben gebettelt und gefleht, aber es blieben viele Gelder aus. Nun kündigte Außenministerin Annalena Baerbock beim Petersberger Klimadialog in Berlin an, dass das Finanzziel bald erreicht sein könnte.
Und dennoch: Das Ziel, die Erderwärmung auf 1,5 Grad im Vergleich zur vorindustriellen Zeit zu begrenzen, gilt wegen schleppender Klimaschutzbemühungen bald als unrealistisch. Beim Klimadialog in Berlin zur Jahresmitte bereiten Vertreter von mehr als 40 Staaten immer die Weltklimakonferenz zum Jahresende vor. Diesmal wird sie in Dubai stattfinden. Im Sommer werden in der Regel große Versprechungen gemacht, die im Winter wieder gebrochen werden.
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Außenministerin Annalena Baerbock, Deutschland beim Petersberger Klimadialog im Auswärtigen Amt.
© Quelle: IMAGO/Metodi Popow
Wie unsere Leserinnen und Leser auf die Lage schauen
Dieter von Kiedrowski aus Mainz zum Newsletter über den Baerbock-Kritiker Richard David Precht vor einer Woche:
„Emotional bin ich (ein Mann) bei Precht. Aber wenn ich Klaus Kinkel oder Heiko Maas betrachte, die auch mal Außenminister waren, dann erscheint mir Baerbock fast wie eine Lichtgestalt. Gerade Precht als Philosoph und Professor sollte in der Lage sein, seine Kritik auf sachliche Füße zu stellen. Sachlich würde ich der Frau Baerbock entgegenhalten, dass sie im Völkerrecht, mit dem sie argumentiert, nicht kundig ist. Sie ist einfach ein intellektuelles Leichtgewicht.“
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Richard David Precht trat mit seiner Kritik an Annalena Baerbock eine mediale Lawine los.
© Quelle: ZDF / Christian Bruch
Veronika Höppner aus Sarstedt zur Viertagewoche:
„Das ist doch nur in Behörden, Verwaltung oder ähnlichen Bereichen möglich, in vielen anderen Berufszweigen wie Krankenhäusern, Pflegeheimen, Gastgewerbe, diversen Handwerksbetrieben et cetera herrscht Personalmangel. Sollen die sich Personal backen? Vielleicht sollte man mal darüber nachdenken, wie man schneller Geflüchtete in den Arbeitsmarkt bringen kann – und ihnen nicht drei Jahre Grundsicherung gewähren. Ich denke, dass viele dieser Menschen bereit und fähig wären.
Konrad Hohmann zum selben Thema:
„Frau Esken hat Recht, die Menschen sind zufriedener bei einer Viertagewoche. Noch zufriedener allerdings mit einer Eintageswoche bei Lohnausgleich. Pensionäre sind sicher am zufriedensten, denn ohne Arbeit, aber bei deutlich höheren Pensionen statt Renten ist man sicher am zufriedensten. Nun, in den Regierungen und Verwaltungen ist das kein Problem, da kann man alles liegen lassen, was man an fünf Tagen auch nicht gearbeitet hat. In der Produktion wäre das fatal, denn wenn Maschinen stillstehen, verteuern sich die Produkte, was niemand bezahlen will und kann. Aber das ist ja egal, denn die Deindustriealisierung ist ja im vollem Gange. Wozu brauchen wir denn Fachkräfte, wenn wir nicht mehr produzieren wollen? Ach, Schlaraffenland ist doch schön, Frau Esken.“
Das ist auch noch lesenswert
Ich hatte es in meinem vorigen Newsletter gesagt: Die Kanzlerkandidatur der Union wird uns noch viele spannende Tage und Wochen bescheren. Und ich hatte empfohlen, dazu den Text meiner Kollegin Alisha Mendgen zu lesen. Und tue es nun erneut. Es gibt wieder etwas Neues.
Auch Lena Köpsell aus Potsdam bleibt an ihren Themen dran. Gemeinsam mit Johannes Vetter berichtet sie darüber, dass Rocker des putintreuen Bikerklubs Nachtwölfe am 9. Mai 2023 in Brandenburg den russischen Tag des Sieges feiern wollen. Ort der Party ist eine Ferienanlage in Heidesee, in der ukrainische Flüchtlinge wohnen.
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Der russische Motorradklub Nachtwölfe hat auch in Deutschland Fans. Einige von ihnen wollen am russischen Tag des Sieges (9. Mai) in Brandenburg eine Party feiern.
© Quelle: Andreas Gebert/dpa
Einer unserer meistgelesenen Texte in dieser Woche war das Stück meiner Kollegin Katrin Schreiter über die Frage, warum uns eine Dürre droht, obwohl es in den vergangenen Wochen so viel geregnet hat. Die bedrückende Antwort liefert das Gespräch mit Fred Hattermann, dem Leiter der Forschung zu hydroklimatischen Risiken am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK). Er sagt, Entwarnung könnte es nur unter ganz besonderen Voraussetzungen geben.
In eigener Sache: Eva Quadbecks Kommentar über Pressefreiheit. Es ist schon beschämend, welchen Platz Deutschland in der internationalen Rangliste einnimmt. Und warum. Das lesen Sie hier.
Das Autorenteam dieses Newsletters meldet sich am Dienstag wieder. Dann berichtet mein Kollege Markus Decker. Bis dahin!
Herzlich
Ihre Kristina Dunz
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