Mit Frauenverachtung den Buchverkauf ankurbeln?
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Hat immer eine Meinung: Richard David Precht.
© Quelle: ZDF und Christian Bruch
Liebe Leserin, lieber Leser,
Interviews mit Politikerinnen und Politikern können mehr Arbeit machen, als Sie sich vielleicht vorstellen. Natürlich möchte man etwas Neues oder ganz Besonderes hören, etwas, was er oder sie vorher noch nicht gesagt hat, am besten überhaupt noch niemand gesagt hat. Das ist nicht einfach, wenn man bedenkt, dass das Wesen der Politik das Reden ist. Wem fällt da nicht Karl Valentin ein: „Es ist schon alles gesagt, nur noch nicht von allen.“
Auch Interviews werden in enge Terminkalender gequetscht. Das Gespräch dauert meistens (nur) 60 bis 90 Minuten – das Aufschreiben allerdings viel länger. Die Antworten müssen komprimiert und gerafft werden, um möglichst viel Inhalt unterzubekommen. Deswegen gibt es die – nicht unumstrittene – Praxis, dass der Gesprächspartner vor Veröffentlichung noch einmal lesen darf, wie sein Interview wiedergegeben wird. Autorisierung nennt man das. Schon kein schönes Wort. Autorisiert werden ausschließlich Interviews beziehungsweise Zitate. Sonst nichts.
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Klassische Interviewsituation: Hier spricht Omid Nouripour, Co-Vorsitzender der Grünen mit RND-Redakteurin Daniela Vates und RND-Redakteur Markus Decker.
© Quelle: Florian Gaertner/photothek.de
Einerseits ist das praktisch, weil Politiker freier sprechen und Journalistinnen das freier zusammenfassen können. Ärgerlich wird es, wenn Passagen verändert werden, die genau so gesagt wurden, oder wenn aus Angst vor der eigenen Courage das gesprochene Wort entschärft wird. Sind die Nachbesserungen zu massiv, erscheint das Interview nicht. Die ganze Arbeit umsonst.
Am Mittwoch haben Daniela Vates und ich Saskia Esken getroffen. Das ist die SPD-Vorsitzende, der viele zu Beginn ihrer Amtszeit am 6. Dezember 2019 nicht viel zugetraut haben. Zusammen mit Norbert Walter-Borjans bildete sie die erste Doppelspitze der SPD. Die Partei war in schweren Turbulenzen. Manche Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollten die große Koalition mit der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nicht mehr. Auch Esken und Walter-Borjans waren keine großen Freunde von Schwarz-Rot. Für viele überraschend stabilisierte Esken die Partei aber. Hauen und Stechen unter Genossinnen und Genossen wurden deutlich weniger. Und sie unterstützte die Kanzlerkandidatur von Olaf Scholz, der im Ringen um den Parteivorsitz ihr größter Konkurrent war. Jetzt teilt sich die 61-Jährige den Vorsitz mit Lars Klingbeil.
Nach der Ära von Willy Brandt sind viele Vorsitzende an ihrer SPD gescheitert oder zogen sich recht schnell wieder zurück. Esken ist nun schon länger im Amt als es Björn Engholm, Rudolf Scharping, Oskar Lafontaine, Franz Müntefering, Matthias Platzeck, Kurt Beck, Martin Schulz, Andrea Nahles und Norbert Walter-Borjans waren.
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Auch Saskia Esken autorisierte ihr Interview. Entschärft hat sie nichts.
© Quelle: picture alliance / photothek
Das Gespräch mit ihr haben wir in einem recht überschaubaren Büro im Paul-Löbe-Haus geführt, dem großen gläsernen Gebäude gegenüber vom Kanzleramt. Es hat 550 Büros für 275 Abgeordnete, 21 Sitzungssäle für Ausschüsse und und etwa 450 Büros der Ausschusssekretariate.
Esken sprach über ihre Sympathie für die Viertagewoche bei Lohnausgleich, sie ging scharf ins Gericht mit dem Publizisten Richard David Precht, der Außenministerin Annalena Baerbock beleidigt hat, sie erzählte aus eigener Erfahrung, wie unverschämt manche Männer sein können. Sie kritisierte Elon Musk und äußerte Ideen, wie künstliche Intelligenz am intelligentesten genutzt werden sollte. Und ihre Antwort auf die Frage, ob sie im Herbst ins Bundeskabinett nachrücken könnte, war auch äußert interessant.
Warum ich Ihnen das erzähle? Auch Esken hat das Interview autorisiert. Entschärft hat sie nichts. Die Passage über Precht ist im Gegenteil noch schöner geworden. Der Mann hatte gesagt, Baerbock sei nicht mal gut genug für ein Praktikum im Auswärtigen Amt. Esken sagt: „Mit seinem herablassenden, frauenverachtenden Verhalten diskreditiert er sich selbst. Mag sein, dass er mit solchen Äußerungen seine Bücher besser verkaufen kann, aber die allgemeine Wertschätzung sinkt doch enorm.“
Der Bücherverkauf. Touché.
Politsprech
Wir nehmen keine Stimmen von Rechtspopulisten und Nazis. Wir brauchen keine Stimmen von Rechtspopulisten und Nazis – und es gab keine Stimmen von Rechtspopulisten und Nazis.
Raed Saleh,
Berliner SPD-Chef
Vielleicht macht Berlins SPD-Landes- und ‑Fraktionschef Raed Saleh daraus noch ein Mantra. Aber das macht die Lage nicht besser. CDU-Landeschef Kai Wegner wurde am Donnerstag bei der Wahl zum Regierenden Bürgermeister von Berlin erst im dritten Wahlgang gewählt. Obwohl die schwarz-rote Koalition über 86 Stimmen im Abgeordnetenhaus verfügt, scheiterte er in zwei Wahlgängen an dem Quorum für die absolute Mehrheit von 80 Stimmen. Beim ersten Mal bekam er nur 71, dann 79 und schließlich 86 Stimmen. Nur: Die rechtsradikale AfD behauptete, sie habe Wegner im dritten Wahlgang zum Erfolg verholfen. Sie hat 17 Abgeordnete. Schwer vorstellbar, dass Salehs zerstrittene SPD im dritten Wahl plötzlich geschlossen für Wegner votierte. Womöglich ist Salehs zweiter Satz richtig: „Wir brauchen keine Stimmen von Rechtspopulisten und Nazis.“ Denn womöglich hat Wegner die 80 nötigen Stimmen aus der eigenen Koalition bekommen. Aber Stimmen von den Rechtspopulisten wurden in der geheimen Wahl wahrscheinlich gegeben und – wenn auch zwangsweise – genommen.
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Der Fraktionsvorsitzende der SPD in Berlin, Raed Saleh.
© Quelle: IMAGO/Emmanuele Contini
Wie unsere Leserinnen und Leser auf die Lage schauen
An dieser Stelle geben wir Ihnen das Wort:
Gesine Liesong zum Newsletter „Gendern light“:
„Ich kann Ihre Bauchschmerzen beim Gendern gut verstehen. Ich habe mich Zeit meines Lebens immer in erster Linie als Mensch gefühlt, erst in zweiter Linie war ich weiblichen Geschlechtes. Wobei das keinerlei Wertung sein soll. Mensch und Menschlichkeit sind das Übergeordnete. Und ich habe im Osten Deutschlands als alleinstehende Mutter von zwei Kindern als Ärztin auch nicht immer den leichtesten Stand gehabt. Und muss mich heute mit einer Enkelin darüber auseinandersetzen, warum ich das Gendern so beschwerlich und unnötig finde. Unsere schöne deutsche Sprache wird so schon oft verhunzt. Wobei doch alle wissen, dass es mit dem Geschlecht in unserer Sprache sowieso hapert und vieles nicht logisch ist. Aber es ist meine Muttersprache, und die möchte ich auch so erhalten wissen. Von Anglizismen will ich hier erst gar nicht anfangen. Ich stehe zu der erlernten Sprache und werde sie nicht ändern. Aber vielleicht gesteht man mir wegen meiner bald 80 Jahre sowieso einen Freibrief zu.“
Klaus Müller-Wrasmann zum selben Thema:
„Es geht nicht nur um das weibliche und männliche Geschlecht. Inzwischen äußern sich die Menschen, die sich als drittes Geschlecht outen und als solche angesprochen werden möchten – und dies deutlich vertreten. Und: Da gibt es noch die Menschen mit Behinderungen. Diese haben einen Anspruch auf diskriminierungsfreie, dies heißt einfache, Sprache. Hier wird der Anspruch erhoben und auch so formuliert: völliger Verzicht auf Gendersprache. Das Genderwörterbuch www.geschicktgendern.de sollten auch die im Journalismus und im Kultursektor arbeitenden Menschen zurate ziehen. Denn es geht immer um Menschen, nicht um Geschlechter, Behinderte, Ausländer, Migranten.“
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Wie am besten gendern?
© Quelle: Gregor Bauernfeind/dpa
Rasmus Helt aus Hamburg zum Kommentar über die SPD:
„Die Analyse spielt den Ball noch nicht weit genug. Schließlich dürfte das Ausbleiben des groß angekündigten sozialdemokratischen Zeitalters weniger etwas mit den machtarithmetischen Konstellationen in mehreren Bundesländern als vielmehr mit den fehlenden echten Visionen bei der gegenwärtigen SPD-Führung zu tun haben. Insbesondere, was die großen transformatorischen Zukunftsfragen betrifft. Deshalb muss vor allem Bundeskanzler Olaf Scholz hier seiner Partei einen wesentlich stärkeren programmatischen Stempel aufdrücken, anstatt einfach nur recht passiv zuzuschauen, wie seine beiden Koalitionspartner sich gerne in politischen Hahnenkämpfen bekriegen.“
Wolfgang Schneider aus Hannover zum Kommentar über den FDP-Parteitag:
„Die Grünen wollten uns mal vorschreiben, was wir essen dürfen. Damit machten sie eine grandiose Bauchlandung. Jetzt will die FDP uns vorschreiben, Unterhaltung nur noch bei den Privatsendern zu sehen, möglichst noch bei solchen, die extra bezahlt werden müssen? Wer sich ansieht, was da zum Teil angeboten wird, der kann sich nur noch grausen. Und dann noch alle paar Minuten Werbung. Dennoch, wer es mag, soll es sich ansehen. Es muss mir auch nicht jede Unterhaltung bei ARD und ZDF gefallen, aber Entertainment ist und muss Teil der Sendungen sein. Sendungen in anderen Sprachen, so man sie denn will, können in den Spartensendern gerne einen Platz finden. Vielleicht 3sat oder ZDF neo. Aber es lohnt wohl kaum noch, sich über diese Partei zu ärgern, sie arbeitet ja bereits erfolgreich daran, sich aus allen Parlamenten zu verabschieden.“
Das ist auch noch lesenswert
„Natürlich hatten wir auch Angst“ – der Ständige Vertreter an der Deutschen Botschaft im Sudan, Michael Sonntag, schildert die Evakuierung und die dramatischen Tage davor. Wie immer einfühlsam aufgeschrieben von Daniela Vates.
Als ich hörte, dass Alisha Mendgen die K‑Frage der Union analysieren will, dachte ich zuerst, bitte nicht schon wieder dieses Thema. Kennt man doch schon. Weit gefehlt. Ihr Text macht mich schlauer, und ich freue mich schon jetzt auf ihren nächsten Bericht dazu. Unionskanzlerkandidatur die erste, zweite, dritte, vierte …
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Und schon wieder diskutiert die Union über einen Kanzlerkandidaten.
© Quelle: IMAGO/Political-Moments
Hitlergrüße auf dem Flur, Hakenkreuze auf Tischen und rassistische Sprüche auf dem Hof – es klingt unfassbar, was sich an einer Schule im brandenburgischen Landkreis Spree-Neiße abspielt. Meine Kollegin Lena Köpsell aus Potsdam hat es zusammengetragen. Eine sehr beunruhigende Entwicklung. Bitte lesen.
Es gab in der Vergangenheit nicht viele Verteidigungsminister, die durch das Dickicht des Beschaffungswesens bei der Bundeswehr durchblickten. Der neue Ressortchef Boris Pistorius macht sich nun daran, die Mammutbehörde in Koblenz zu durchforsten. Scheitern nicht ausgeschlossen. Markus Decker klärt über die möglichen Kollateralschäden und Widerstände auf.
Unser Krisenreporter Can Merey ist zurzeit in Mali, wo er mit dem dortigen Kommandeur der deutschen Truppen, Oberst Heiko Bohnsack, über den gefährlichen Bundeswehreinsatz gesprochen hat (+). Can wollte wissen: „Befürchten Sie, dass Mali nach dem Abzug der Bundeswehr im Chaos versinkt?“ Bohnsacks Antwort: „Ich weiß es nicht.“ Seit dem Versagen der Politik in Afghanistan ist es die Frage aller Fragen: Was bleibt, wenn die Bundeswehr wieder geht?
Das Autorenteam dieses Newsletters meldet sich am Dienstag wieder. Dann berichtet mein Kollege Markus Decker. Bis dahin!
Herzlich
Ihre Kristina Dunz
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