Experten streiten über neues Wahlrecht – Vorwurf der „Bürgerferne“
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Das leere Plenum des Deutschen Bundestags.
© Quelle: picture alliance / Michael Kappe
Berlin. Abschaffung der Erst- und Zweitstimme, Schluss mit Überhangmandaten und dem ungebremsten Anwachsen der Bundestagsmandate, dafür eine feste Begrenzung auf 598 Sitze: Schon bei der nächsten Bundestagswahl in zweieinhalb Jahren sollen die Deutschen ihr Parlament nach weitgehend neuen Regeln wählen.
So plant es die Ampelkoalition, die kürzlich ihren ersten Entwurf für ein neues Wahlrecht in den Bundestag einbrachte und in ihrem ehrgeizigen Zeitplan sogar vorgesehen hat, dass das Bundesverfassungsgericht noch prüfen kann, ob die Reform dem Grundgesetz entspricht. Denn dass die Opposition in Karlsruhe dagegen klagt, müssen SPD, Grüne und FDP angesichts der Kritik vor allem der Union einplanen.
Ampelparteien werden eines Besseren belehrt
Falls die Ampelparteien aber glaubten, ihr Entwurf sei über jeden Zweifel an dessen Verfassungsmäßigkeit erhaben, so mussten sie sich an diesem Montag eines Besseren belehren lassen. Denn in der ersten Expertenanhörung zur Wahlrechtsreform konnte nicht nur die Koalition einige der führenden deutschen Verfassungsrechtler präsentieren, die dem Ampelvorschlag viele Vorteile und klare Grundgesetztreue bescheinigten.
So lobte etwa der Frankfurter Verfassungsrechtler Uwe Volkmann, dass der Bundestag seine eigene Verkleinerung um 140 Mandate in die Wege leiten würde, sei „eine Leistung, die ich dem politischen System der Bundesrepublik nicht zugetraut hätte“. Im Gegensatz zu den verschiedenen Oppositionsvorschlägen wirke sich der Ampelentwurf zudem nicht auf die Wettbewerbschancen der Parteien aus. Und auch seine Kollegin Sophie Schönberger aus Düsseldorf sagte, der Ampelentwurf durchschlage nach Jahrzehnten den „gordischen Knoten“, zugleich die Regelgröße auf höchstens 598 Abgeordneten festzuschreiben, zugleich aber auch den Wählerwillen genau abzubilden.
Staatsrechtler: Ampelentwurf sei „bürgerfern“
Doch die Unionsparteien konnten Professoren und Professorinnen auffahren, die die entgegengesetzte Ansicht vertraten: Der Ampelentwurf sei „bürgerfern“ und würde dazu führen, dass eine zweistellige Zahl von Wahlkreisen nicht mehr durch einen Direktkandidaten oder eine Direktkandidatin im Bundestag vertreten sind, warnte etwa der Staatsrechtler Philipp Austermann von der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung.
Auch andere von CDU und CSU geladene Experten und Expertinnen zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit des Ampelentwurfs – etwa, weil der Gleichheitsgrundsatz verletzt werde, wonach jede Wählerstimme gleich viel wert sein und dieselbe Aussicht auf Erfolg haben müsse.
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Kritik an geplanter Sitzzuteilung
Die Kritik entzündet sich daran, dass die Ampel bei der Zuteilung von Sitzen zur Bedingung machen will, dass die Partei der Kandidaten und Kandidatinnen ausreichend Zweitstimmen errungen hat. Klaffen Direktmandate und Parteiergebnis allzu weit auseinander, könnten so auch Kandidatinnen und Kandidaten leer ausgehen, die die meisten Stimmen im Wahlkreis bekommen haben.
Die Union befürchtet, dass „bundesweit zwischen 10 und 20 Prozent an Wahlkreisen nicht zugeteilt würden“, wie CSU-Innenpolitiker Alexander Hoffmann sagte, „in Bayern sogar 25 Prozent“. Staatsrechtler Austermann sieht darin eine Entwertung eines „bewährten direktdemokratischen Elementes“.
Umstrittene Nebenwirkungen
Der Berliner Verfassungsrechtler Christoph Möllers widersprach: In der Parlamentspraxis gebe es gar keinen Unterschied zwischen Abgeordneten mit Direkt- oder Parteilistenmandat. Das Wahlrecht garantiere deshalb auch „Listenabgeordneten“ die Finanzierung eines Wahlkreisbüros – werte sie also ebenso als Vertreter und Vertreterinnen des Wahlkreises. Wahlkreise ganz ohne Abgeordnete und Abgeordneten würden die Ausnahme bleiben, so Möllers: Von den 299 Wahlkreisen dürfte die Zahl im niedrigen einstelligen Bereich liegen.
So wurde in der Anhörung deutlich: Zwar plädieren alle Fraktionen dafür, dass der Deutsche Bundestag – inzwischen mit 736 Abgeordneten bereits das zweitgrößte Parlament der Welt nach dem Volkskongress in China – nicht immer größer werden darf. Auch dass daran die Mischung aus Personal- und Verhältniswahlrecht schuld ist, ist Konsens. Klar ist auch, dass die Mittel für Bremse oder gar Deckelung von früheren Urteilen des Bundesverfassungsgerichts eingegrenzt sind.
Umstritten bleiben aber die akzeptablen Nebenwirkungen – vor allem in der Frage, wie direkt die Personenwahl mittels Erst- beziehungsweise Wahlkreisstimme sein muss. Darf man sie überhaupt an die zweite Bedingung knüpfen, dass die Partei ausreichend stark ist? Bei der bayerischen Landtagswahl gibt es einen solchen Passus seit 1954. Welche Prioritäten das Bundesverfassungsgericht setzt, ist nicht ganz klar.
Die Ampel hält an ihrem Zeitplan fest
Die Ampel hält an ihrem Zeitplan fest, die Reform vor Ostern zu verabschieden – wobei sie nach dieser Anhörung womöglich Nachbesserungen vornehme, wie der Vizevorsitzende des Innenausschusses, Lars Castellucci, zum Schluss erklärte. Vielleicht finde man bis dahin ja auch noch eine Einigung mit der Union, sagte der SPD-Politiker: „Allerdings hat diese Anhörung auch gezeigt, dass es dahin ein weiter Weg wäre.“