Straffällige Kinder und Jugendliche

Psychiater: „Resozialisierung ist möglich“ – aber die Gesellschaft ist in der Pflicht

Ein Polizist steht in der Nähe des Fundorts einer Leiche an einer Absperrung.

Ein Polizist steht in der Nähe des Fundorts einer Leiche an einer Absperrung.

Die Tatverdächtigen im Fall Luise F. sind zwölf und 13 Jahre alt. Wissen Kinder in dem Alter, was sie da tun?

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Helmut Remschmidt: Es ist ein sehr, sehr seltenes Ereignis, wenn es wirklich zwei Mädchen waren. Da kommt es sehr darauf an, was die Motive waren, ob es geplant war oder ob sich die Tat in der Situation ergeben hat. Aber auch, wenn es geplant war, ist unklar, ob man in diesen jungen Jahren eine exakte Vorstellung von der Endgültigkeit des Todes hat. Also ob den tatverdächtigen Mädchen bewusst war, dass das andere Mädchen stirbt und für immer tot ist, ob sie das begriffen haben, daran kann man zweifeln.

Die Frage ist auch deshalb relevant, weil es um Strafmündigkeit geht. Mit 13 Jahren ist man in Deutschland nicht strafmündig. Ist das richtig so?

Helmut Remschmidt: Es hat über die Jahre hinweg immer wieder solche Fälle gegeben und dann immer auch einen großen Aufschrei, bei dem gefordert wird, dass das Strafrecht verschärft wird oder die Strafmündigkeit heruntergesetzt wird. Strafmündig ist man in Deutschland erst nach dem 14. Lebensjahr. Die Strafmündigkeit herunterzusetzen, da bin ich komplett dagegen. Das sind auch Einzelfälle.

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Haben Sie schon einmal einen solchen Fall erlebt?

Helmut Remschmidt: Ich habe einmal einen 15-Jährigen betreut, der einen Gleichaltrigen durch Erwürgen getötet hat. Da gab es ein sexuelles Motiv. Ich habe mehrere Fälle gehabt von sehr jungen Menschen, die einen anderen umgebracht haben, nachdem sie diesen sexuell belästigt oder manipuliert haben. Aber dass zwei Mädchen ein drittes Mädchen getötet haben, das habe ich in 40 Jahren Tätigkeit noch nicht erlebt.

Wie wird in diesem Fall nun weiter vorgegangen?

Helmut Remschmidt: Wenn ich den Fall zu untersuchen hätte, dann würde ich der Sache nachgehen, ob es ein Vorbild für die Tat gibt, in der Presse oder in einem Krimi. Außerdem ist der Beziehungsaspekt wichtig: Welche Beziehung hatten die beiden Verdächtigen zu dem getöteten Mädchen? Da ist die Frage: Spielten vorherige Verhaltensweisen des Mädchens eine Rolle? Dass die beiden einfach so, ohne Vorgeschichte, getötet haben, nur, weil sie jemanden sterben sehen wollten, ist außerordentlich unwahrscheinlich.

Zur Person

Helmut Remschmidt (84) ist Kinder- und Jugendpsychiater, Psychologe und ehemaliger Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und ‑psychotherapie der Philipps-Universität Marburg. Er ist Autor der Bücher „Tötungs- und Gewaltdelikte junger Menschen. Ursachen, Begutachtung, Prognose“, erschienen im Springer-Verlag, sowie „Wenn junge Menschen töten: Ein Kinder- und Jugendpsychiater berichtet“, erschienen bei C. H. Beck.

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Welche Prozesse sorgen dafür, dass Kinder oder Jugendliche straffällig werden?

Helmut Remschmidt: Die Erziehung spielt eine zentrale Rolle, weil Kinder in die Gesellschaft hineinwachsen müssen. Ich habe mit meinen Mitarbeitern Untersuchungen gemacht über die Entwicklung und die Straftaten von Kindern. Da stellte sich heraus, dass Kinder unter 14 Jahren allesamt Delikte begangen haben, natürlich keine Tötungsdelikte oder Gewaltdelikte, aber Regelverstöße wie etwa Diebstahl. Und das reduziert sich mit dem Hineinwachsen in die Gesellschaft und mit dem Erwerben eines moralischen Bewusstseins. Wenn Kinder geboren werden, wissen sie nicht, was gut und was schlecht ist. Das lernt man durch den gesellschaftlichen Prozess, vor allem durch die Erziehung. Und wenn jemand Eltern hat, die schlagen oder gewalttätig sind, dann ist das ein Einfluss, der später auch eigene Gewalttaten fördern kann. Das heißt nicht, dass sie ausschließlich dadurch bedingt sind, aber die Gefährdung steigt.

Fall der getöteten Zwölfjährigen: zwei Mädchen unter Verdacht
Ein Polizist steht in der Nähe des Fundorts einer Leiche an einer Absperrung.

Der Tod einer Zwölfjährigen aus Freudenberg im Siegerland gibt weiter viele Rätsel auf. Jetzt stehen zwei Mädchen unter Verdacht.

Wenn Kinder oder Jugendliche eine schwere Gewalttat begehen, etwa Mord oder Totschlag, können sie irgendwann wieder ein normales Leben führen?

Helmut Remschmidt: Wir beobachten, dass ein normaler Alltag möglich ist und auch passiert. Die meisten Jugendlichen müssen erst einmal ihre Strafen absitzen. In der Strafhaft werden sie betreut, auch therapeutisch. Diese Jugendlichen können sich völlig normalisieren. Am schwierigsten ist es bei sogenannten Intensivtätern. Das sind junge Menschen, die eine große Zahl von Delikten über einen längeren Zeitraum begehen, aber das sind nur 4 Prozent. Um die muss man sich speziell kümmern, weil sie in einer Spirale drin sind, aus der sie allein nicht herauskommen. Aber selbst bei Intensivtätern habe ich erlebt, dass sie später, wenn sie junge Erwachsene wurden, wenn sie ein Mädchen kennengelernt haben und vielleicht sogar geheiratet haben, dass die Entwicklung dann gut weitergegangen ist. Resozialisierung ist möglich, aber sie geht nicht von selbst. Es sind Anstrengungen seitens der Gesellschaft erforderlich.

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Wenn Kinder oder Jugendliche andere Kinder oder Jugendliche töten, kennen Täter und Opfer einander in der Regel. Macht ein gemeinsames Umfeld eine Resozialisierung schwieriger?

Helmut Remschmidt: Das ist schwierig, ja. Aber bei schwerwiegenden Straftaten muss der Täter ja erst einmal in die Justizvollzugsanstalt, und dass er dann, wenn er rauskommt, in dieselbe Clique geht, halte ich für unwahrscheinlich. Der wird sich umorientieren müssen. Dann spielt das vorherige Umfeld keine große Rolle. Aber wenn er dort wieder ankäme, würde er mit Sicherheit abgelehnt werden und die ehemaligen Freunde würden nichts mit ihm zu tun haben wollen. Das ist ja auch nachzuvollziehen.

Im aktuellen Fall kommen die drei Mädchen offenbar aus einem Umfeld – und die Verdächtigen sind nicht strafmündig. Können diese Mädchen wieder am Wohnort integriert werden?

Helmut Remschmidt: Es kann gut sein, dass ein Umzug notwendig ist. In der Regel kommen strafunmündige Täter aber zunächst in ein therapeutisches Heim, dort wird die Sache aufgearbeitet und sie können dort zur Schule gehen. Dass Täter und Täterinnen einfach so weiterleben, das kommt nicht vor, das wäre auch unmöglich. Dann muss man sehen, wie es weitergeht, natürlich auch für die Familien. In einer kleinen Gemeinde ist die Familie schnell schwer unter Beschuss, obwohl sie unter Umständen nichts für die Tat kann. Da gibt es keine Anonymität. Das ist für die ganze Familie eine schwere Hypothek. Und die Mädchen können sicherlich nicht in ihren Freundeskreis zurückkehren.

Sie haben die Familie der beiden Mädchen angesprochen. Wie können Eltern so etwas verarbeiten, wenn das eigene Kind jemanden umgebracht hat?

Helmut Remschmidt: Sie können es meist nur schwer verarbeiten. Dabei muss man ihnen helfen, sie müssen eine therapeutische Hilfe bekommen. Sie machen sich vielleicht Vorwürfe: Wieso hat mein Kind das gemacht? Habe ich einen Fehler gemacht in der Erziehung? Sind wir schlechte Eltern? Das ist eine ganz schwerwiegende familiäre Problematik, die aufgearbeitet werden muss. Das geht eigentlich nicht ohne therapeutische Hilfe.

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Und wie sieht es bei den Eltern des Opfers aus? Sie haben ihr Kind verloren und diejenigen, die mutmaßlich dafür verantwortlich sind, werden strafrechtlich nicht belangt. Wie lässt sich so etwas ertragen?

Helmut Remschmidt: Das ist für die Eltern des Opfers sehr, sehr, sehr schlimm. Sie denken vielleicht, wie ungerecht unsere Gesetze sind. Aber dass ein Kind unter 14 Jahren nicht zur Verantwortung gezogen werden kann, hat seine Gründe. Den Eltern des Opfers das klarzumachen, ist schwierig, weil man es eigentlich kaum klarmachen kann. Sie werden das ihr Leben lang mit sich herumtragen. Sie brauchen natürlich auch Therapeuten. Wenn ein Kind durch eine Erkrankung gestorben ist, ist es auch ein ganz schwerer Verlust. Aber wenn ein Kind erstochen worden ist, dann kommt eine weitere Ebene dazu, die schwer zu verarbeiten ist. Wenn die Krankheit ihren Verlauf nimmt, dann ist das die Krankheit, die hat sich halt entwickelt. Aber wenn jemand aktiv jemanden getötet hat, kommt noch einmal etwas drauf.

Gibt es einen Punkt, vielleicht auch im Erwachsenenalter, an dem Menschen bewusst wird, wie schwer ihre Straftat ist? An dem sie merken, was sie als Minderjährige angerichtet haben?

Helmut Remschmidt: Ja, den Punkt gibt es, vor allen Dingen, wenn es eine therapeutische Aufarbeitung gibt. Viele Täter haben Schuldgefühle. Sie fragen sich: Was habe ich gemacht? Wie konnte das passieren? Sie leiden auch darunter. Der Täter hat auch Gefühle, er hat viel mit sich selbst zu tun. Der Täter braucht auch Hilfe wie die Eltern und die Eltern der Opfer.

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